Lasst mich dabei sein!

13.12.2019, 11:19 Uhr
Lasst mich dabei sein!

© Foto: Antonio Gravante/Fotolia

Seit jeher wird in meinem Bekanntenkreis tief seufzend der Winter, wenigstens aber eine ausgedehnte Schlechtwetterperiode herbeigesehnt, sobald das Jahr einen unsichtbaren, doch deutlich zu fühlenden Zenit überschritten hat. Dann ist die Rede von existenzbedingter Schwäche, schweren Erschöpfungszuständen; dann wird von einsamen Wäldern oder Tagen auf dem Kanapee geschwärmt – nur, um im selben Atemzug eiligst Verabredungen zu treffen. Für das kommende Wochenende und das darauffolgende; für die Tage bis dahin, die Abende und am besten auch den Vortag.

"Warum", fragt man eine besonders schwache Person, die trotzdem pünktlich zum Event erscheint, "bist du denn jetzt doch da?" Und sie schaut dich aus tränenden, aber wohlfrisierten Wimpern an und sagt: "Spaßverpassungsangst." Die abgedrehteste Party, die wichtigste Ausstellung. Das geheimste Konzert, der lustigste Grillabend, die wärmste Nacht, die verruchtesten Angebote – nicht dabei gewesen? Nicht mitreden können? Nicht Jahre später noch Blicke in ewiger Komplizenschaft austauschen können? Undenkbar.

Das Phänomen ist freilich nicht neu, allein es heißt halt jetzt anders: Der "Hans Dampf in allen Gassen" bezeichnet seit jeher eine umtriebige Person, die mit wohlmeinendem Schmunzeln als Tausendsassa gilt und auch beispielsweise den Englischsprechern als "Jack of all trades" wohlbekannt ist.

Dass das aber vielleicht gar nicht der allumfassend erstrebenswerte Zustand ist, von außen wie von innen betrachtet, verrät die Sprache auch: Der "Jack of all trades, but master of none" ist zwar überall dabei, aber nirgendwo richtig anwesend. Das meint ebenso das Sprichwort der vielen Hochzeiten, auf denen man nicht gleichzeitig tanzen kann: Wenn du immer nur dran denkst, was du grade auf der anderen Veranstaltung verpasst, wie sollst du da je entspannt sein? Und dafür, dass man sich durchaus zum Gespött zu machen droht statt zum bewunderten Freizeitolympioniken, hat beispielsweise das Bayrische schon längst ein eigenes Wort: der "Adabei".

"Der Mensch muss sozial interagieren, muss einer Gruppe zugehören, so, wie er essen muss. Sonst ist er aufgeschmissen."

Doch kein Phänomen kann so alt sein, dass es nicht nach neuesten Methoden seziert, aufbereitet und serviert werden kann: Das Kurzwort Fomo steht für etwas, was bislang eher belächelt wurde, mittlerweile aber kurz davor steht, in das ICD-10 – also das Klassifikationssystem für medizinische Diagnosen – aufgenommen und dadurch mit den den hohen Weihen ernstzunehmender Krankheiten versehen zu werden: Die "Fear of Missing Out", die Angst, etwas zu verpassen, wird beispielsweise von der Techniker Krankenkasse als "erste Social-Media-Krankheit" bezeichnet. Fomo mag lächerlich klingen, kann aber gleichwohl ernstzunehmende Folgen haben. Nämlich, so schreibt die US-amerikanische Journalistin Bianca Bosker schon 2011, Schwitzen, Jucken, chronische Erschöpfung und zwanghaftes Aktualisieren meines Twitter-Feeds".

Die Symptome sind vielfältig und mindestens im Einzelnen wohl vielen von uns bekannt: Niedergeschlagenheit, wenn die Freunde Spaß haben und man selbst nicht dabei ist. Das eigene Leben mit dem der anderen vergleichen und fürchten, schlechter abzuschneiden. Nervosität, wenn man nicht weiß, was die Kumpels so treiben. Unternehmungen nicht genießen, sondern gleich dran denken, wo und wie online mitgeteilt werden kann.

Die Meldungen auf dem Smartphone checken immerzu: beim Essen, in Gesellschaft, beim Autofahren, bei der Arbeit. Gar nicht so lächerlich eigentlich, sondern ein furchtbarer Stress, zunehmend bereitet von dem Gerät, das uns doch eigentlich so frei und unabhängig machen soll. Doch es ist genau dieses Smartphone, das der Welt mit aller Freiheit auch die Fomo-Fesseln schenkt, eine vielschichtige Diagnose, die in bester Tradition der Sozialpsychologie steht.

Amy Summerville, Professorin an der Psychologie-Fakultät der Miami University, gehört zu den wenigen Wissenschaftlern, die sich des Phänomens annehmen. Der Mensch, so sagt sie, muss sozial interagieren, muss einer Gruppe zugehören, so, wie er essen muss. Sonst ist er aufgeschmissen. In der Gruppe muss er Zuflucht suchen können, Schutz vorm bösen Draußen, vor dem Leben, vor den Feinden. Die Zugehörigkeit zur Gruppe zu verlieren, das bedeutet Gefahr für Leib und Leben. Wenn ich der Gruppe fernbleibe, statt zusammenschweißende Erfahrungen zu teilen, Erlebnisse, Abenteuer, vielleicht den Gruppenfeind zu identifizieren, dann kann ich nicht mehr mitreden, dann gehöre ich nicht dazu, wird mein Fernbleiben bestraft. Und dann steh ich dem nächsten Säbelzahntiger alleine gegenüber. Nicht so gut.

Jetzt kannst du sagen: "Was ich nicht weiß macht mich nicht heiß", dich entspannt aufs Radl schwingen, in den Wald, aufs Kanapee, ins Buch verkriechen oder ins Kochrezept, kannst durchs Museum flanieren oder eine Bastelanleitung umsetzen. Nur leider hast du da dein Smartphone dabei. Und das schreit dir stetig ins Gesicht, was du gerade alles nicht tust. Und das auf zehn Kanälen, die alle mit hübsch ausgewählten Fotos, Videos, Status unter die Nase reiben, wie wundervoll es derzeit ist – und zwar überall dort, wo du dich eben nicht aufhältst.

"Man könnte ausprobieren, wie sich das anfühlt, die eigene Unverzichtbarkeit einer Prüfung zu unterziehen."

Plötzlich ist der Wald trüb und das Buch fad, beginnt dein Hirn zu rasen, weil du nicht dabei bist, nicht mitmachst, nicht teilhast. Und die Stimme, die dir zuraunt, dass auf dem Festival die DixiKlos verdreckt sind und bei der Slammeisterschaft die Stühle unbequem; dass bei der Vernissage die immer gleichen Smalltalks geführt werden und dass die Party furchtbar langweilig sein muss, wenn alle nur Fotos und Videos inszenieren, statt betrunken euphorisch tanzend zu knutschen, hörst du nicht. Sondern nur: Alle haben unfassbaren Spaß! Und ich verpasse das!

Der Stress ist also mehrfach programmiert: Wer überall dabei ist, weil er überall dabei ist, macht sich fertig. Wer das nicht schafft, aber unbedingt schaffen will – schrecklich. Und selbst wer dem entsagt, gerät deshalb in Stress. Was tun?

Nicht einer gewissen Ironie entbehrt, dass auch hier die Technik mit Hilfsmitteln schnell zur Seite springt: Apps sollen helfen, zu meditieren, wer "Bitte nicht stören" aktiviert, lässt die digitalen Rollos runter – muss es aber aushalten, nicht dauernd durch die Lamellen zu spitzen.

Doch ginge es nicht einfacher? Gewiss: Man könnte das Handy daheim lassen und ausprobieren, wie sich das anfühlt, die eigene Unverzichtbarkeit einer Prüfung zu unterziehen. Doch weil das viel zu einfach wäre, kommt sogleich seit einem Jahr ein neuer Trend herangeritten. Auf dessen Fahne steht weithin sichtbar: "Jomo!", und das ist nur konsequent. "The Joy of Missing Out." Der Verpassungsspaß also.

"Nicht ewig auf den Nachtbus warten, kein Geld ausgeben, keinen Kater haben und auch: nicht enttäuscht werden", beschreibt das Bento-Magazin die Vorzüge der neuen Haltung derer, die statt auf vier Events gleichzeitig zu tanzen, es sich mit sich selbst zufrieden auf der Couch gemütlich machen. Die netflixen und chillen, statt zu netzwerken und zu grillen, die selbstbewusst beschließen: Wie toll kann eine Feier schon sein, wenn ich gar nicht dabei bin? Und wie irgendwie ironisch, in Wahrheit aber unfassbar cool bin ich, wenn ich einfach müßiggehe. Gurkenmaske, Badewanne, Entspannung gar beim Staubwischen?

Schlüsselmoment für mich im vergangenen Sommer: Tickets für das lustigste Festival. Erwartet auf der wichtigsten Kunstveranstaltung. Eingeladen auf zwei Geburtstagen. Eröffnung der neuesten Trendlocation. Alles am selben Tag und Abend. Ich war fix und fertig schon im Vorfeld – hab’ nach stundenlangem Prüfen alles abgesagt. Und sogleich eine riesengroße Freude verspürt, die mir einen herrlich entspannten Sommertag bescherte, ganz für mich allein. Am nächsten Tag befragte ich mit leichter Sorge diejenigen, die Teile des Freizeitmarathons absolviert hatten. "Den Stress", hörte ich mit größtem Vergnügen, "hätten wir uns sparen können".

 

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