Leitartikel: Europa zerfällt

2.12.2015, 20:16 Uhr

Noch ist Europa nicht verloren. Der Zustand der Europäischen Union aber gibt Anlass zu tiefer Sorge. Das Gebilde der EU ist aus den Ruinen des Zweiten Weltkriegs erwachsen. Aus kühnen Visionen wurde in jahrzehntelangem Ringen politische Realität, aus Erzfeinden engste Verbündete. Die Spaltung des Kontinents in Ost und West, 60 Jahre eine offene Wunde, wurde überwunden. Nun droht dieses großartige europäische Projekt im Zeitraffertempo zu zerfallen. Und viele Bürger in Europa nehmen das mit einem Schulterzucken hin, als ginge es sie kaum etwas an. Sie täuschen sich.

Es ist erst ein Jahrzehnt her, als mit Jeremy Rifkin ausgerechnet ein Amerikaner mit seinem Buch „Der Europäische Traum: Die Vision einer leisen Supermacht“ für Aufsehen sorgte. Pünktlich zur EU-Osterweiterung befand er, dass das europäische, nicht das amerikanische Modell geeignet sei, die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu meistern. Nicht mehr militärische Macht sollte die Welt verändern, sondern das Angebot der Kooperation. Wer sich heute ansieht, wie auf den Brandherden in Syrien und im Irak wieder nur das Militär agiert und die Diplomatie versagt, dem müssen da die Tränen kommen.

Alle schotten sich ab

Wo einst der freie Verkehr einen ganzen Kontinent näher zusammenbrachte, werden heute wieder hässliche Grenzzäune hochgezogen, um die Flüchtlinge aus aller Welt abzuwehren. Anstatt die Aufgabe gemeinsam anzupacken, schotten sich die EU-Staaten gegenseitig ab. Die Deutschen fordern eine gerechtere Verteilung der Flüchtlinge ein, die Polen wollen am liebsten gar keine aufnehmen und wenn, dann nur Christen. Italiener und Griechen, ohnehin gebeutelt, werden weitgehend alleingelassen. (Bericht S. 4)

Die Briten, die mit der EU schon lange fremdeln, wollen Europa wieder zu einer bloßen Freihandelszone zurechtstutzen. Im europäischen Kernland Frankreich und in Staaten wie den Niederlanden, Schweden oder Dänemark, einst Modelle der Freizügigkeit, treiben rechtsgerichtete Parteien die verschüchterten Demokraten vor sich her.

Der Euro, auch ein kühnes Projekt der Einigung, ist ins Siechtum verfallen. Die Weltfinanzkrise mag in den USA ihren Ausgang genommen haben. Doch Europa hat darauf noch schlechter reagiert als die Partner jenseits des Atlantiks.

Einst war Europa angetreten, die soziale Marktwirtschaft als Gegenentwurf zum Turbokapitalismus amerikanischer Prägung anzubieten und Vorbild zu sein für den Rest der Welt. Heute verhandeln wir mit den USA ein Freihandelsabkommen, das den Siegeszug globaler Konzerne, ihre Vorherrschaft über Politik und Bürger, in Gesetzesform festschreiben will. Ein Desaster.

Deutsche Mitschuld

In Deutschland glauben viele Bürger, dass wir der vielleicht letzte Stabilitätsanker in einem kriselnden Europa seien. Ungern wird wahrgenommen, dass wir eine nicht unbeträchtliche Mitschuld an der Misere haben. Nicht zuletzt unser Land hat entscheidenden Anteil daran, dass blasse, schwache Figuren in europäische Spitzenämter gehoben wurden.

Auch wirtschaftlich hat Deutschland durch den überproportional großen Niedriglohnbereich die Krise in Europa und der Welt verschärft, anstatt Disparitäten auszugleichen. Altkanzler Helmut Schmidt hat in seinem letzten großen Interview fast wütend darauf hingewiesen, welch verheerende Folgen der immense Exportüberschuss in der Welt habe — und dass das ein eklatanter Verstoß sei gegen das gesetzliche Prinzip des außenwirtschaftlichen Gleichgewichts.

Von Albert Einstein stammt die Erkenntnis: „Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind“. Im Versagen der Staatengemeinschaft in den Kriegsgebieten der Welt, in der Eurokrise und in der unbarmherzigen Wirtschaftspolitik wird genau das missachtet.

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