Leitartikel: Ihr da oben

17.12.2016, 09:00 Uhr

Für falsche Romantik gibt es keinen Grund: 1968 war nicht alles gut. Aber trotz aller Schattenseiten - vor allem dem Terror der RAF - haben die Studentenrevolte und die durch sie angestoßenen gesellschaftlichen Veränderungen dieses Land geprägt wie keine andere Phase in der Nachkriegsgeschichte. Unter anderem mehr Gleichberechtigung, ein liberales Sexualrecht oder aber die Aufarbeitung der NS-Diktatur haben die Bundesrepublik zu einem weltoffenen Land gemacht, das zudem wirtschaftlich beeindruckend stark ist.

Aber Geschichte hat ihre ironischen Seiten: Jetzt gibt es wieder eine Entwicklung wie damals, eine Art Aufstand gegen das Establishment. Es geht dabei nicht allein um die Rechtspopulisten der AfD und ihre Wähler, es geht auch um die CDU. Bei den Christdemokraten hatte sich Parteichefin Angela Merkel um eine späte Modernisierung bemüht - und jetzt hat der Essener Parteitag ungerührt das Profil nach rechts verschoben. Dass sie ihre eigene Kanzlerin damit im Regen stehen lassen, störte die Mehrheit der Delegierten weniger.

Der Schluss ist zwingend: Da muss ziemlich viel schiefgelaufen sein, bei den Konservativen ebenso wie in der gesamten Gesellschaft. Und das kann man getrost als ein Problem von Eliten verstehen, von denen da oben also.

Geschlechtsneutrale Anrede

Gut, die Debatte um die Frage, ob Professorx die richtige geschlechtsneutrale Anrede für eine(n) Hochschullehrer(in) ist, hat die breite Öffentlichkeit glücklicherweise nicht erreicht. Und auch die Idee von speziellen Transgender-Toiletten für Menschen ohne klare Geschlechtszugehörigkeit ist in einer intellektuellen Nische geblieben.

Beides zeugt zwar von Abgehobenheit, aber wichtiger ist: Vor lauter Stolz auf diesen leistungsfähigen und liberalen Staat ist der Blick für die soziale Realität verloren gegangen. Jeder fünfte Beschäftigte verdient zum Beispiel weniger als zehn Euro in der Stunde - das ist ein Leben an der Armutsgrenze. Oder: Viele junge Menschen arbeiten erst einmal mit Zeitverträgen; an Kinder ist unter diesen Umständen nur schwer zu denken.

Und wer arm ist, resigniert leicht und verzichtet auf politisches Engagement. Was wiederum bedeutet: Diese Interessen werden im gesellschaftlichen Diskurs nur schlecht vertreten. Es ist ein Teufelskreis, an dessen Ende eine Spaltung zwischen Arm und Reich steht.

Lohn-Dumping erlaubt

Hier gibt es die zweite Ironie: Eingeleitet haben diese Entwicklung ausgerechnet zwei Politiker, die getrost zum Kreis der Alt-68er zu rechnen sind, Gerhard Schröder und Joschka Fischer. Sie haben bei den Hartz-Reformen zwar von Fordern und Fördern geredet, aber das letztere vernachlässigt. Sie erlaubten Lohn-Dumping, weil sie keinen Mindestlohn einführten. Andererseits wurde der Spitzensteuersatz für besonders hohe Einkommen gesenkt. Sie sind, das muss man so sagen, dem Neoliberalismus auf den Leim gegangen.

Die Sozialdemokraten bereuen wenigstens das eine oder andere und suchen eine Antwort darauf, was Solidarität heute heißen könnte. Von solcher Erkenntnis ist die Union noch weit entfernt, jedenfalls solange sie Wohlhabende nicht stärker zur Staatsfinanzierung heranziehen will.

Darum aber kommt keiner herum, der die Kluft zwischen Arm und Reich ernsthaft verringern will. Das wiederum ist der wichtigste Schritt, um Populisten den Nährboden zu entziehen. Wenn wieder mehr Menschen von der wirtschaftlichen Stärke profitieren, dann können sie sich vielleicht auch mit Begriffen wie Weltoffenheit oder Globalisierung anfreunden, die sie - aus ihrer Sicht durchaus nachvollziehbar - als Bedrohung empfinden. Denn dieses liberale Erbe von 1968 ist es durchaus wert, verteidigt zu werden.

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