Lernen mit Rezept

6.3.2018, 10:01 Uhr
Lernen mit Rezept

© Roland Fengler

Mit Nadine fängt alles an - und der Start ist zäh. Drei Monate lang treffen sich die Mittelschülerin, damals in der achten Klasse, und Siegbert Rudolph. Einmal pro Woche gibt der Rentner Nadine Nachhilfe im Lesen. Doch das Ergebnis nach einem Vierteljahr ist ernüchternd: "Es ging nicht voran." Aber Siegbert Rudolph gibt nicht auf: "Wenn ich etwas mache, dann richtig – oder ich fang’ gar nicht damit an."

Nadine weckt den Ehrgeiz des heute 73-Jährigen, auch weil sie "ansonsten eine vorbildliche Schülerin war, in Mathe nur Einser und Zweier hatte". So hat die junge Legasthenikerin ihre Leseschwäche und ihre miesen Deutsch-Noten kompensieren können. Also versucht Rudolph mit Nadine ein Vokabelheft anzulegen, merkt aber: Auch beim Schreiben hapert es.

Siegbert Rudolph lässt nicht locker, greift auf seine 40 Jahre Berufserfahrung als Diplom-Betriebswirt für die Datev zurück — und entwickelt am Computer eine eigene Lernmethode. Das ehemalige Mitglied des Vorstandes entwirft Lernkarten. Die zeigen zum Beispiel auf der einen Seite einen dicken Menschen, auf der anderen Seite das Wort Adipositas.

Mehr als 900 Übungen

Irgendwann steigt Rudolph mit seinem Lerntraining komplett auf den Computer um, denkt sich eine Übung nach der anderen aus, um Nadine das Lesen näher zu bringen. Dafür liest er selbst Fachliteratur; sie füllt die halbe Schrankwand in Rudolphs Büro in seinem Haus in Oberasbach.

Nach eineinhalb Jahren und rund 180 Nachhilfestunden ergattert Nadine die beste Lehrstelle in der Klasse. Sie ist heute Mechatronikerin, bei jeder ersten Gehaltserhöhung hat sie Siegbert Rudolph und seine Frau zum Essen eingeladen.

Für Siegbert Rudolph, der schon als Schüler und Student oft Nachhilfe gegeben hat, weil er gut erklärt, ist es der Start für eine zweite, ehrenamtliche Karriere — als "Lesekoch". Woher die Bezeichnung kommt? Eigentlich will sich Rudolph nach der Berufslaufbahn dem Kochen widmen. Das Problem: Seine Frau lässt ihn nicht an den Herd. "Nicht in meiner Küche!"

Also sucht Siegbert Rudolph eine andere Aufgabe und findet die Aktivsenioren. Die spannen ihn zuerst für Wirtschaftsberatung ein und später fürs Bewerbungstraining. So trifft er Nadine, hilft ihr — wie inzwischen 80 Schülern (zeitweise bis zu 15 parallel), die Probleme beim Lesen, Schreiben oder Rechnen haben. Oder hatten.

Als Grundlage dienen Rudolph dabei mehr als 900 Übungen am PC, die der Oberasbacher Lesekoch frei zur Verfügung stellt: sein Rezept, mit dem er Schülern auf spielerische Art das Lesen beibringt und verhindert, dass die Mädchen und Jungen die verbreitete Ratetechnik anwenden.

Die ist der Grund, wieso manche Eltern nicht einmal merken, dass ihr Kind schlecht liest, weiß Rudolph, dessen Übungen — heute — auch von Lehrern übernommen werden. Obwohl manche den Fachfremden zu Beginn kritisch beäugen. Heute bildet Rudolph etliche Nachhilfen auch für Schulen aus — mit seinem System.

Weil das Rezept des Lesekochs überzeugt. Die Zutaten sind simpel, spielerisch — und an verschiedene Jahrgangsstufen angepasst. Rudolph entwickelt zum Beispiel Wortschlangen ohne Leerzeichen, weil die Kinder so gezwungen sind, langsam zu lesen — und die Wörter nicht erraten können.

Auf seiner Internetseite www.der-lesekoch.de stellt er Übungen mit Witzen, Hörbeispielen, Texten und mehr jedem kostenlos zur Verfügung. Investiert hat er in die professionelle Seite viel, drüber reden aber mag er wenig — oder gar Profit schlagen daraus. Er sei darauf nicht angewiesen und habe darauf auch keine Lust.

Lieber sollen durch seine Übungen viele Kinder das Lesen lernen. Denn auch wenn seine Frau ihm schon einmal gesagt hat, er könne es nicht allen beibringen, ist Siegbert Rudolph doch überzeugt: "Jedes Kind kann gut lesen lernen, wenn man mit ihm übt — und ihm Zeit gibt." Und: Sie sollen sich auf das Lesen freuen. Das tun sie — und genau deshalb schmeckt den Schülern das Rezept des Lesekochs.

Verwandte Themen


Keine Kommentare