„Man kann untreu werden, ohne Sex zu haben“

13.1.2016, 21:20 Uhr
„Man kann untreu werden, ohne Sex zu haben“

© Illustration: obs/ElitePartner

Frau Nagel, worin liegt eigentlich der Reiz einer Affäre? Was ist daran so berauschend?

Susanne Nagel: In einer langjährigen Beziehung, so beschreibt es Shirley Glass, sieht mich mein Partner in einem absolut klaren Licht. Er sieht jede Falte, jede Pore, jeden Pickel. Und ich weiß, dass er mich so sieht. In der sich anbahnenden Affäre hingegen sehe ich mich durch die Augen des anderen neu. Es ist, als würde ich in einen Schminkspiegel blicken, der mit rosafarbenem Licht indifferent beleuchtet ist, so dass mein Teint schön ist, die Falten verschwunden sind. Ich verliebe mich daher weniger in den anderen, sondern in den Blick, den er auf mich hat. Denn dadurch kann ich mich selbst wieder anders sehen. Das ist eine ganz große Motivation, weshalb die Nähe eines Menschen außerhalb der Beziehung gesucht wird.

Untreue hat auch mit Nähe zu tun? Ich muss also nicht erst Sex mit einem anderen haben, um fremdzugehen . . .?

Susanne Nagel: Meines Erachtens beginnt Untreue, wenn ich anfange, meine Prioritäten zu verlagern, meine Loyalität zu verschieben. Der Partner ist nicht mehr meine Nummer eins, er rutscht auf einen nachrangigen Platz – und ein anderer nimmt seine Position ein. Beispiel: Zwei Nachbarn, die schon lange befreundet sind und sich regelmäßig treffen, mal zum Kaffeetrinken, mal zum Joggen. Irgendwann verbringen sie mehr vertraute Zeit miteinander als mit ihren Partnern. Sie besprechen Sorgen und Probleme, die Vertrautheit zwischen ihnen wächst. Ist aber das Maß an emotionaler Nähe höher als zum eigenen Partner, steckt man in einer emotionalen Affäre. Man kann also untreu werden, ohne Sex zu haben.

„Man kann untreu werden, ohne Sex zu haben“

© Foto: Fengler

Die Expertin Shirley Glass meint, der offenere Umgang, den es heute zwischen den Geschlechtern gibt, vergrößert die Gefahr der Untreue. Folge: Gerade aus unverfänglichen Beziehungen entwickeln sich oft Affären . . .

Susanne Nagel: Bei Arbeitskollegen, Nachbarn oder Freunden entwickelt sich eine Affäre leichter, weil man viele Gelegenheiten hat, sich zu treffen. Im Beruf beispielsweise hat man immer Gesprächsstoff, man arbeitet gemeinsam an Projekten, feiert Erfolge. Das bringt näher und kann zu Adrenalinkicks führen, die man mit Verliebtheit verwechseln kann. Das ist die eine Seite. Aber daneben gibt es natürlich auch die Seitensprünge, die bewusst gesucht werden, zum Beispiel über Dating-Agenturen.

Wissenschaftler fanden vor kurzem heraus, dass es bei Wühlmäusen eine Art Untreue-Gen gibt. Was fördert beim Menschen das Fremdgehen?

Susanne Nagel: Es gibt so etwas wie eine individuelle Anfälligkeit, die in der eigenen Persönlichkeit begründet ist. So kann etwa jemand mit geringem Selbstwertgefühl besonders anfällig sein für bewundernde Blicke von anderen. Zweitens: Die Beziehung mit dem Partner kann den Wunsch nach Nähe zu einem anderen fördern. Eine Falle, in die viele Paare tappen, ist beispielsweise: Kommen Kinder, dreht sich die ganze Partnerschaft nur noch um den Nachwuchs. Und es findet außerdem seltener oder auch gar kein Sex mehr statt. Wie anfällig ich für Untreue bin, hängt, drittens, auch vom Umfeld ab. Wenn ich in einem Umfeld aufwachse oder lebe, in dem Fremdgehen normal ist, kann das meine Neigung zur Untreue fördern.

Es gibt das Klischee vom untreuen Mann und der betrogenen Frau . . .

Susanne Nagel: Die Frauen haben gewaltig aufgeholt. Ob es schon 50:50 ist, weiß ich nicht. Denn verlässliche Zahlen dazu gibt es nicht.

Untreue Männer, untreue Frauen – gibt es hier überhaupt noch Unterschiede zwischen den Geschlechtern?

Susanne Nagel: Werden Frauen untreu, geht das auch heute noch meist mit emotionaler Bindung einher. Und auch bei Männern, denen es früher oft nur um Sex ging, spielt emotionale Nähe bei einer Affäre heute eine größere Rolle. Worin sich die Geschlechter aber deutlich unterscheiden: Für Frauen ist es oft schwerer zu verarbeiten, wenn der Mann eine emotionale Außenbeziehung hat. Und Männer werden leichter damit fertig, wenn ihre Frau eine emotionale Beziehung, aber keinen Sex mit einem anderen hat.

Psychologen beschreiben Untreue als Trauma. Was erschüttert so?

Susanne Nagel: Die Erschütterung liegt im Vertrauensbruch, der Heimlichkeit. Mein Partner hinterging mich, ohne dass ich es bemerkte. Meine Realität, wie ich sie bis dahin erlebte, existiert plötzlich nicht mehr.

Der Mensch, von dem ich dachte, ich würde ihn kennen, er- scheint mir vollkommen fremd. Diese Täuschung ist es, die den Leuten den Boden unter den Füßen wegzieht.

Und die Folgen?

Susanne Nagel: Untreue ist eine traumatische Erfahrung, die oft Symp- tome einer posttraumatischen Belastungsstörung verursacht: Es gibt emotionale Flashbacks, die die Verletzung wieder nach oben holen. Man ist besessen von Gedanken an die Untreue des Partners, lässt nichts mehr an sich heran, hat Schlafstörungen . . . Und auch wenn der untreue Partner am liebsten schnell zur Tagesordnung übergehen würde, so braucht der Betrogene doch Zeit, um sich seine Wirklichkeit neu zusammenzubauen. Das dauert oft ein, zwei Jahre.

Was erwartet man sich heutzutage von einer Liebesbeziehung eigentlich?

Susanne Nagel: Die meisten wünschen sich Sicherheit und Stabilität. Sie brauchen das Gefühl, dass dieser eine Mensch nur für sie da ist. Letztlich ist es so zwar nicht – denn tatsächlich teile ich meinen Partner mit vielen Menschen, gerade das zeichnet ja eine gelingende Beziehung aus: dass sich die Partner Freiraum zugestehen. Dennoch ist die Sicherheit wichtig, dass man dem eigenen Partner vertrauen kann. Diese Sicherheit zerbricht, wenn der Seitensprung auffliegt.

Wenn aber das Konzept exklusiver Liebe so oft nicht funktioniert: Wäre es nicht sinnvoll, es zu ändern? Eine offene Beziehung einzugehen?

Susanne Nagel: Es gibt heute tatsächlich viele Paare, die das Konzept zu ändern versuchen. Meist klappt das nicht so gut. Ein Grund liegt darin, dass viele die Sicherheit emotionaler wie sexueller Exklusivität brauchen, um sich richtig öffnen und fallenlassen zu können. Darauf will man in einer Partnerschaft nicht verzichten.

 

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