Handysucht bei Jugendlichen: "Verbote machen keinen Sinn"

10.7.2020, 11:05 Uhr
Handysucht bei Jugendlichen:

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Welche Apps benutzen Jugendliche besonders oft?

Rudolf Kammerl: Zum einen Social-Media-Apps wie WhatsApp, Instagram und Snapchat und zum anderen Videos beziehungsweise Filme bei Youtube, Netflix und TikTok. Bei Jungen haben Spiele einen höheren Stellenwert.

Wie geht es einem Schüler, wenn er sein Handy mal nicht neben sich liegen hat, und wie hoch ist das Ablenkungspotenzial durch diese Apps?

Kammerl: Drei bis sechs Prozent der Jugendlichen in Deutschland zeigen eine problematische Internetnutzung, die schon einer Abhängigkeit ähnelt. Dabei kann sich das auf vielfältige Internetanwendungen beziehen: Online-Spiele, soziale Netzwerke, Instant-Messaging-Dienste, Blogging, Videoplattformen und Online-Pornographie. Eine Abhängigkeit von Mini-Videos ist noch nicht als eigenständige Störung anerkannt. Besonders gut belegt ist hingegen eine Abhängigkeit bei Spielen, die Internet Gaming Disorder. Kurze Videos sind oftmals sehr unterhaltsam und bieten deshalb eine willkommene Ablenkung. Es scheint aber eher von Konzentration und Disziplin auf der einen Seite und der Attraktivität und Strukturierung der eigentlichen Aufgabenstellung abhängig zu sein, ob man sich ablenkt oder nicht.

Man kennt das: Man will nur schnell ein Video ansehen und bleibt dann statt zehn Minuten eine Stunde oder länger am Handy kleben. Was kann man in dem Fall machen? Sich erst gar nicht zehn Minuten vornehmen, weil das unrealistisch ist?

Kammerl: Das Festlegen von selbst gewählten Regeln und die Einübung von Routinen hilft. Es ist besser, sich in seinem Alltag bewusst Zeitfenster für digitale Unterhaltung einzuplanen und dabei zu überlegen, wann und wie lange das sinnvoll ist, als sich einfach treiben zu lassen.

Wie können sich Schüler wappnen, um nicht durch TikTok oder YouTube vom Lernen abgelenkt zu werden? Gibt es Tricks?
Kammerl: Lernen schließt ein, dass Schülerinnen und Schüler zunehmend selbständig ihre Lernzeit sinnvoll strukturieren und dabei darauf achten, dass sie ablenkende Faktoren von Anfang an beseitigen. Konkret: Handy auf Flugmodus setzen und weglegen!

Handysucht bei Jugendlichen:

© Rudolf Kammerl

Welche Aufgabe kommt in diesem Zusammenhang den Lehrern zu? Handys verbieten?

Kammerl: Allgemeine Verbote machen bei Schülern weiterführender Schulen keinen Sinn. Es geht vielmehr darum, Heranwachsende dabei zu unterstützen, für sich eine Selbstregulierung zu entwickeln, die zu einer effektiven, selbstbestimmten und verantwortlichen Nutzung der digitalen Chancen führt. Lehrkräfte sind wichtige Vorbilder. Sie sollten diese sinnvollen Möglichkeiten aufzeigen können und bei den Kindern die Kompetenzen fördern, die in einer zunehmend digitalen Welt immer wichtiger werden.

Wie werden Lehrer in Bezug auf die Handynutzung geschult?

Kammerl: Es gibt derzeit eine Fortbildungsoffensive für alle bayerischen Lehrkräfte zur Digitalen Bildung. Mit der Corona-Krise gibt es einen großen kollektiven Lernprozess, da derzeit alle Schulen verstärkt über digitale Kanäle Angebote für Schülerinnen und Schüler machen sollen. Im Lehramtsstudium werden zudem die Studienangebote ausgebaut. Es wäre natürlich wünschenswert gewesen, wenn das schon wesentlich früher und verbindlicher gemacht worden wäre, aber es tut sich was.

Wie wichtig wäre es für die Jugendlichen, in den Pausen oder direkt nach Schulschluss aufs Smartphone zu verzichten?

Kammerl: Pausen sind für die Regeneration da und sollten nicht durch die Handynutzung bestimmt werden. Es spricht vielleicht nichts gegen einen kurzen Blick auf persönlichen Nachrichten. Aber wer glaubt, dass Erholung am Handy besonders gut gelingt, irrt. Auch aus der Lernforschung wird eher davon abgeraten. Besser sollte man das Erlernte sacken lassen als sich gleich mit neuem Input aus dem Handy zu beschäftigen.

Wie sieht eine sinnvolle Handynutzung im Unterricht und auch am Nachmittag aus?

Kammerl: Mit meinen Mitarbeitern habe ich verschiedenen Projekte zur Nutzung digitaler Medien wissenschaftlich begleitet. Insgesamt kann nach unseren Erkenntnissen mit Notebooks oder mit Tablets besser gearbeitet werden als mit dem Handy. Die Stärken des Handys liegen in der ständigen Verfügbarkeit. Es ist beispielsweise für kurze Recherchen oder für Vokabelabfragen gut geeignet. Spannend sind auch die Ansätze, die vielfältigen Funktionen des Handys für forschendes Lernen zu nutzen. Für den Physikunterricht kann das Mobiltelefon beispielsweise als Minilabor verwendet werden. Zum Thema gibt es viele Materialien, zum Beispiel die DVD „Mobiles Lernen im Unterricht“. Hier werden zahlreiche Beispiele und Apps für den Unterricht vorgestellt.

Gibt es Apps, mit denen Schüler kurz durchschnaufen und sich danach wieder auf den Schulstoff - vielleicht sogar besser - konzentrieren können?

Kammerl: Im Lernprozess sind Pausen und Konzentrationsübungen sinnvoll. Das sollte aber besser ohne Handy stattfinden.

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