Söder fordert bei "Anne Will" verlässliche Zahlen aus dem RKI

4.5.2020, 08:34 Uhr
War bei Anne Will aus München zugeschaltet: Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder.

© NDR/Wolfgang Borrs War bei Anne Will aus München zugeschaltet: Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder.

Wenn Vize-Kanzler Olaf Scholz, Bayerns Ministerpräsident Markus Söder und der Grünen-Chef Robert Habeck in einer Talkrunde sitzen, waren in Vor-Corona-Zeiten politischer Streit vorprogrammiert. Heute sieht die Welt etwas anders aus. Bei Anne Will rät Söder in Sachen COVID-19 weiterhin zu "Umsicht und Vorsicht", Scholz spricht von "vielen Dingen, die gleichzeitig richtig gemacht wurden" und Harbeck stimmt zu, dass "wir geduldig" sein müssen.

Es wird an diesem Abend wieder einmal schnell sichtbar, dass es derzeit kein "richtig" und "falsch" in der Politik gibt. Vorsichtige Kritik wird allenfalls laut, wenn Habeck die langsame Umsetzung der Tracing-App anspricht oder Söder den Wunsch nach "verlässlichen Zahlen aus dem Robert-Koch-Institut" äußert. Bisher habe es immer wieder verschiedene als maßgeblich erachtete Zahlen gegeben. Das wünscht sich der Ministerpräsident anders: Dann könne man "nicht nur mit politischer Mehrheit, sondern mit gutem Gewissen" weitere Schritte gehen.

Gegenwind erhält Söder prompt: Jutta Allmendinger, die bis 2007 das in Nürnberg angesiedelte Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) leitete und nun als Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin fungiert, wirft zunächst ein, dass es auch für Wissenschaftler derzeit nicht einfach sei und stellt dann klar: Es ist "auch nicht die Aufgabe der Wissenschaft, da zu dienen". Ähnlich sieht es auch Habeck: "Wissenschaftliche Erkenntnisse werden niemals die Politik entbinden, Entscheidungen zu treffen", betont er.

Das verschiedene Tempo der Bundesländer bei der Lockerung der coronabedingten Einschränkungen ist dagegen für die Politiker so gut wie kein Problem. Söder "wundert" sich zwar über die Entscheidung Sachsen-Anhalts, dass sich ab Montag bereits wieder fünf Personen außerhalb des eigenen Hausstands treffen können, dennoch plädiert er dafür, dass die Länder durchaus in der Lage sein müssen, auf das "unterschiedliche Infektionsgeschehen" in eigener Regie zu reagieren.

Spannender war da schon die Frage, wie die Politik auf die Forderungen aus der Wirtschaft reagiert, die weitere milliardenschwere Programme zum Überstehen der Krise einfordern. Laut Hildegard Müller, Präsidentin des Verbands der Automobilindustrie, sind jetzt "Kriterien nötig, wie die verschiedenen Branchen wieder hochgefahren werden können". Dabei sei es wenig hilfreich, wenn jedes Bundesland seinen eigenen Weg gehe, so Müller. Gerade wenn es zu erneuten Teilschließungen kommen sollte, weil sich beispielsweise die Zahl der Infektionen wieder erhöhen sollte, wäre es "schon gut zu wissen, ab wann ein Geschehen als dramatisch eingeschätzt wird".

Gedanken ganz anderer Art macht sich derweil Jutta Allmendinger. Sie stört, dass in der ganzen Diskussion die "soziale und psychische Gesundheit" bislang zu kurz kam. Untersuchungen hätten gezeigt, dass Kinder aus bildungsfernen Schichten, die das Gymnasium erreichen möchten, den Unterrichtsausfall von vier bis sechs Wochen nicht mehr aufholen können. Gleichzeitig wirke sich der Verzicht von Frauen auf Arbeitszeit, um sich wieder verstärkt um die Familie zu kümmern, sowohl bei der Rentenzahlung als auch bei den Karrierechancen fatal aus.

Finanzminister Olaf Scholz wollte da nicht widersprechen, verwies aber auf die vielen Maßnahmen, die die Bundesregierung ergriffen habe, um die Krise bislang so gut als möglich zu überstehen. Dennoch gehe er davon aus, dass es in den kommenden zwei Jahren "schwierig bleibt". Es gelte auch für die Familien "eine Wirklichkeit herzustellen, in der alles wieder funktioniert", so der SPD-Politiker, wenngleich man sich darauf einstellen müsse, dass "der Virus nicht einfach verschwindet".

Dass diese Wirklichkeit bei den verschiedenen Interessensgruppen sehr unterschiedlich ausfallen kann, machte die Diskussion um Kurzarbeitergeld bei gleichzeitiger Beibehaltung von Bonizahlungen und Dividendenausschüttung deutlich. Für Hildegard Müller war dies kein Widerspruch, da die Unternehmen mit ihren Steuergeldern und Sozialleistungen in die Kassen einbezahlen würden. Für Olaf Scholz dagegen sei noch nicht ganz verständlich, worin hier der "klügere Ratschluss" liege. Und ganz im Sinne einer verschwurbelten Große-Koalitions-Sprachregelung kam dann der Satz heraus: "Es haben viele verstanden, dass Inanspruchnahme von Kurzarbeitergeld und gleichzeitig die Auszahlung von Dividenden und Boni eine sehr komplizierte Idee ist."

Für Robert Habeck dagegen gehen "Dividenden und Boni gar nicht", solange Leistungen des Staates in Anspruch genommen würden. Der bayerische Ministerpräsident umschiffte das Thema und ging stattdessen lieber auf ebenfalls im Raum stehende "Absatzhilfe" ein, die er nicht als "Abwrack-", sondern als "Innovationsprämie" sieht. Laut Söder benötigen "Schlüsselindustrien besondere Anreize" und mit Blick auf den Klimaschutz sehe er hier eine Chance, die "Konjunktur zu stabilisieren, zu stimulieren und den Klimaschutz voranzubringen". Dem wollte selbst Habeck nicht widersprechen, wenngleich er die Gefahr sieht, dass die "Strukturkrise" in der Automobilbranche schon vor Corona steckte, nun mit zusätzlichen Geld nur verlängert würde. Hier sei ein komplettes Umdenken nötig, so Habeck um zusätzliche Förderung zur rechtfertigen.

Erneut war es Jutta Allmendinger, die den Fokus weg von einzelnen Branchen auf das große Ganze richtete. Auf die Frage von Anne Will, ob ein "Kindergipfel nicht besser wäre, als ein Autogipfel" erinnerte sie zunächst daran, man sei nur durch die Krise gekommen, weil es ein großes Vertrauen der Bevölkerung in die Politik und das Vertrauen der Menschen auf- und untereinander gebe. Die Krise sei zudem eine einmalige Chance zur Erneuerung, so Allmendinger. In den vergangenen Jahren ist "die Ungleichheit im Vermögen viel zu groß geworden", so die Wissenschaftlerin, gleichzeitig sei die "Ungleichheit in der Bildung" weiter gestiegen, die Fortschritte in der Digitalisierung waren ungenügend und "wir haben in der ökologischen Frage keine entscheidenden Fortschritte gemacht".

Aus ihrer Sicht sei es jetzt an der Zeit, diese Erkenntnisse zusammenzuführen und zu fragen, "was folgt jetzt daraus". Dazu passte denn auch der schon vorher geäußerte Satz von Olaf Scholz: "Wir dürfen niemals den Eindruck erwecken, es gebe eine einfache Lösung. Das ist nicht nur unwahrscheinlich, das ist gefährlich und hilft nur Verschwörungstheorien."

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