Vom Schnee begraben: Lawinen, die unterschätzte Gefahr

21.1.2020, 10:03 Uhr
100 Lawinen-Tote gibt es im Durchschnitt in den Alpen pro Wintersaison.

© JEAN-PIERRE CLATOT 100 Lawinen-Tote gibt es im Durchschnitt in den Alpen pro Wintersaison.

Alles begann mit einem Rauschen. "Und dann sah ich plötzlich den Schnee, wie er zwischen meinen Beinen hindurchfloss und mich wegriss." Mit Schwimmbewegungen kann sich Karl Meier zuerst oben halten. Dann überschlägt sich der gebürtige Treuchtlinger, die Skier und der Rucksack werden weggerissen. "Ich hab immer noch diese Geräuschkulisse in meinem Ohr. Diesen brutalen Lärm." Und dann, von einem auf den anderen Moment, wurde alles totenstill. "In dem Moment dachte ich, es ist aus, jetzt bist du im Himmel."

Karl Meier war in den Stubaier Alpen unterwegs als ihn die Lawine erfasste. Das ist Jahre her, doch Lawinen stellen in jeder Wintersaison eine Gefahr dar. Erst kurz vor Silvester kamen an einem Wochenende in Südtirol durch einen Lawinenabgang drei Skifahrer ums Leben, ein vierter starb bei einer Lawine im Schweizer Skigebiet Lauchernalp. Was den ersten Fall so tragisch macht: Die Familie war eigentlich auf einer gesicherten Piste unterwegs. Nun wird ermittelt, wie es zu der Katastrophe kommen konnte und was die Lawine ausgelöst hat. Denn Fakt ist: "Das ist ein absoluter Ausnahmefall. Ich kann mich nicht erinnern, dass es so etwas schon mal gegeben hat", so Thomas Bucher, Sprecher des Deutschen Alpenvereins. Hundertprozentige Sicherheit gebe es aber nie. "Das ist Natur."

100 Lawinen-Tote gibt es im Durchschnitt in den Alpen pro Wintersaison. Darin mit eingerechnet sind allerdings nicht nur Skifahrer, sondern auch Tote durch Lawinen auf Straßen oder bei Wanderungen. 100 Millionen Touristen fahren jährlich in der kalten Jahreszeit in die Alpen.

Immer mehr Wintersportler Abseits der Pisten unterwegs

Dass es teilweise innerhalb weniger Tage zu einer Häufung von Unfällen kommt, hat laut Bucher mehrere Gründe: "Das gute Wetter zieht viele Menschen in die Berge, es sind Ferien und die Warnstufe für Lawinen liegt bei Stufe 3." Ist von der Stufe 3 die Rede, ist die Lawinengefahr in dem Gebiet "erheblich", allerdings noch nicht "groß". Viele Wintersportler würden die Gefahr unterschätzen und trotzdem abseits der gesicherten Pisten fahren, so seine Erfahrung.

Die unberührte Natur, keine anderen Skifahrer und mehr Nervenkitzel, diese Aussichten locken immer mehr Wintersportler dazu, abseits der Pisten zu fahren, so Bucher. Dass das mehr als gefährlich ist, zeigt die Statistik: 90 Prozent aller tödlichen Lawinen werden von Menschen selbst ausgelöst und zwar abseits der Piste. Auf den gesicherten Pisten und Straßen in Deutschland gab es dagegen seit 1967 keinen Toten mehr.


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Dass das so bleibt, dafür trägt unter anderem Thomas Feistl, Leiter der Lawinenwarnzentrale im Bayerischen Landesamt für Umwelt, Sorge. Täglich gibt er mit seinem Team den Lawinenlagebericht für sechs Regionen heraus: die Allgäuer Alpen, die Ammergauer Alpen, die Werdenfelser Alpen, die Bayerischen Voralpen, die Chiemgauer Alpen und die Berchtesgadener Alpen. Welche Lawinenwarnstufe für welche Region besteht, das entscheidet Feistl auf Grund der Berichte von 50 Beobachtern vor Ort. Bereits am Morgen vor sieben Uhr sind die Ersten unterwegs, prüfen die Schneedecke und die aktuelle Situation. Am Nachmittag gibt es eine weitere Überprüfung.

Die Einschätzung, ob Lawinengefahr besteht, basiert aber nicht nur auf der Untersuchung der Schneedecke, sondern auch auf weiteren Komponenten, so Feistl: Die Windverhältnisse, das Wetter und die Temperaturen spielen eine entscheidende Rolle. Komponenten, die sich durch den Klimawandel zunehmend ändern.

Welche Rolle der Klimawandel spielt

Seit Ende 2018 untersucht Alec van Herwijnen vom Schweizer WSL-Institut für Schnee- und Lawinenforschung (SLF) in Davos deshalb, ob es einen Zusammenhang zwischen der Lawinengefahr und dem Klimawandel gibt. Denn unbestritten ist: Die Schneedecke reagiert auf Klimaänderungen. Bei Erwärmung fällt der Schnee als Regen, oder der bereits gefallene Schnee schmilzt. Dadurch verändert sich die Ausdehnung, Höhe und Dichte der Schneedecke. Schwere Schneestürme und längere Schönwetterperioden lassen die Schneedecke zudem fragiler und brüchiger werden – eine Veränderung, die sich auf die Lawinengefahr auswirkt.

Vom Schnee begraben: Lawinen, die unterschätzte Gefahr

© Quelle: ard; NN-Infografik: Carlo Schmitt

"Grundsätzlich muss man erst mal zwischen drei Lawinentypen unterscheiden: der Schneebrettlawine, der Gleitschneelawine und der Lockerschneelawine", erklärt van Herwijnen. Die Schneebrettlawine wird dabei meistens von Skifahrern selbst ausgelöst. Sie sind nur dann möglich, wenn eine gebundene Schneeschicht (das "Schneebrett") auf einer Schwachschicht liegt . Fährt ein Skifahrer darüber, bricht die Schwachschicht und die gebundene obere Schicht rutscht ab.

Forschung steht am Anfang

Anders verhält sich das bei Gleitschneelawinen. Sie entstehen oft auf Wiesenhängen, wenn sich zwischen Schnee und Untergrund ein Wasserfilm bildet, zum Beispiel weil der Boden zu warm ist und der Schnee dadurch nicht anfriert. Um eine Gleitschneelawine auszulösen, braucht es keine Schwachstelle und kein menschliches Zutun. Vielmehr fehlt durch das Wasser die nötige Reibung, es entsteht ein sogenanntes Gleitschneemaul, die gesamte Schneedecke gleitet nach unten ab.

Blang traten Gleitschneelawinen vermehrt im Herbst und zur Tauzeit auf, doch durch die längeren und häufigeren Schönwetterperioden nimmt die Lawinenart nun auch innerhalb der Saison zu. Weil seine Forschung noch sehr jung ist, ist van Herwijnen aber vorsichtig mit einer Prognose: "Also ich kann mir vorstellen, dass Gleitschneelawinen zunehmen, aber es wurde noch nicht anhand von Daten nachgewiesen." Allerdings: Eine Veränderung ist bereits sichtbar, bestätigt der Chef des Lawinenwarndienstes Bayern, Feistl: "In den letzten Jahren wurden von unseren Beobachtern vermehrt Gleitschneelawinen gemeldet."

Die Zeit zum Retten ist begrenzt

15 Minuten, nur so lange haben Retter durchschnittlich Zeit, um ein Lawinenopfer noch lebend bergen zu können. Karl Meier hatte damals Glück. Als die Lawine über ihm abgeht, begräbt sie zwar seinen ganzen Körper, sein rechter Arm und der Kopf ragen aber aus der Schneedecke heraus. Seine Kameraden eilen ihm sofort zu Hilfe, befreien ihn von den Schneemassen. Wie lange er damals unter der Schneedecke begraben war, kann Meier heute nicht mehr genau sagen. "Die Zeit abzuschätzen, ist sehr schwierig. Ich dachte, der Sturz dauert ewig."

Er kommt glimpflich davon: Zwei Rippenbrüche, mehrere Prellungen, ein Schock, ansonsten bleibt er unverletzt. Und auch seine Lust auf die Berge hat der mittlerweile 76-Jährige nicht verloren. "Ich hab genauso die Touren gemacht wie davor. Aber ich habe mehr auf die Sicherheit geachtet, weil die Situation damals habe ich einfach unterschätzt."

Und das trotz jahrelanger Erfahrung: Bereits mit 25 wurde er Mitglied in der DAV-Sektion Treuchtlingen, machte dort eine Ausbildung zum Fachübungsleiter. Darunter fallen auch Trainings zur Lawinenerkennung und Bergung. Trotzdem konnte auch er damals die Anzeichen einer drohenden Lawine nicht erkennen – eine unterschätzte Gefahr, die andere mit dem Leben bezahlen.

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