Ahmad Mansour über Nizza-Terror: "Haben auch Problem mit Islamismus"

30.10.2020, 21:20 Uhr
Ahmad Mansour (44) ist deutsch- israelischer Diplom-Psychologe und Autor aus Berlin. Er war schon mehrfach Gast bei NN-Talks.

Ahmad Mansour (44) ist deutsch- israelischer Diplom-Psychologe und Autor aus Berlin. Er war schon mehrfach Gast bei NN-Talks.

Herr Mansour, die Konflikte eskalieren: Erdogan beschimpft Frankreichs Präsidenten Macron als Geisteskranken – weil dieser dem Islamismus den Kampf angesagt hat nach der brutalen Enthauptung eines Lehrers in Frankreich...Nun gab es wieder ein islamistisches Attentat in Frankreich. Und man hat den Eindruck, manche Islamisten begrüßen diese Radikalisierung...

Ahmad Mansour: Es gibt für Erdogan in der ganzen islamischen Welt, die sehr heterogen ist, viel Zustimmung, auch bei deutschen Muslimen. Die Karikaturen von "Charlie Hebdo" haben ein Tabu berührt. Die Reaktionen darauf waren für mich vorhersehbar, weil sich nach wie vor nie ein Dialog über Meinungsfreiheit unter Muslimen entwickelt hat.


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Sie sagen, Frankreich sei in Sachen Integration oder eher Nicht-Integration zehn Jahre weiter als wir. Was meinen Sie damit und was folgt daraus?

Mansour: Es geht um die Bekämpfung von Islamismus. Frankreich hat sehr lange das Thema ignoriert – wir tun dies auch, wir reagieren und diskutieren das nur kurz. Und in zwei Wochen will keiner mehr etwas über das Thema hören. Was nicht kommt, sind Lösungsansätze: Wie können wir aus Menschen, die patriarchalisch und religiös-traditionell denken und agieren, demokratische Bürger dieses Landes machen? Wie gewinnen wir sie für die Meinungsfreiheit? Frankreich ist da kurz vor dem Point of no return, vor einem Kipp-Punkt – erst recht nach dem jüngsten Anschlag. Da drohen dauerhafte, tagtägliche brutale Konflikte – und das wollen wir nicht, auch hier in Deutschland nicht.

Bei uns ist die Lage noch nicht so dramatisch, oder?

Mansour: Nur von der Intensität her. Aber vom Ansatz, von der Ideologie her schon. Hier ist kein Lehrer ermordet worden wie in Frankreich. Doch auch hier sind viele Lehrer eingeschüchtert. Dass viele Themen tabu sind, das sehe ich seit Jahren. Sie sprechen gerade mit jemandem, der unter Personenschutz steht, wegen ständiger Bedrohungen. Das zeigt: Wir sind keine Insel der Glückseligen, sondern haben auch Probleme mit Islamismus.

Ein Demonstrant hält ein mit einem Schuhabdruck gestempeltes Bild des französischen Präsidenten Macron während einer Demonstration gegen diesen vor der französischen Botschaft in Bagdad in der Hand. 

Ein Demonstrant hält ein mit einem Schuhabdruck gestempeltes Bild des französischen Präsidenten Macron während einer Demonstration gegen diesen vor der französischen Botschaft in Bagdad in der Hand.  © Foto: Ameer Al Mohammedaw/dpa

Es gab kürzlich die Messerattacken in Dresden. Der Täter war wohl ein behördenbekannter Islamist, der als Gefährder galt. Danach gab es wenig öffentliche Reaktionen. Hätten Sie sich auch bei uns so etwas gewünscht wie den Staatsakt, den es in Frankreich für den ermordeten Lehrer gab?

Mansour: Ich würde sogar viel weiter gehen und sagen, dass unsere Solidarität manchmal sehr selektiv ist. Wir solidarisieren uns da, wo eine Tat unserem Weltbild entspricht, wo die Frage nach Opfer und Feind ganz klar ist. Bei anderen Taten vermeiden wir Solidarität oder geben nur Lippenbekenntnisse ab. Ich wünsche mir einen ganz anderen Umgang mit Terror. Daher fordere ich einen einheitlichen Gedenktag für alle Opfer von Terror – ohne Taten zu werten. Es geht da vor allem, aber nicht nur um die Opfer, sondern auch um deren Familie, Freunde. Wir kümmern uns viel mehr um die Täter und versuchen zu ergründen, was in deren Köpfen vorgeht. Das ist auch richtig, aber die Opfer werden oft vergessen.


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Ihr neues Buch heißt "Solidarisch sein". Klingt altmodisch... Was verstehen Sie darunter?

Mansour: Mit einem anderen Titel hätte sich das Buch sicher besser verkauft (lacht). Aber ich wollte die Begriffe der Linken aufgreifen – und dazu zählt Solidarität. Ich sage: Wenn sie solidarisch sein wollen, dann lasst uns eine Art von Solidarität finden, die uns alle verbindet und nicht nur eine bestimmte Gruppe. Solidarität ist für mich etwas Gesamtgesellschaftliches. Ich habe vor allem ab März als Folge der Corona-Krise Solidarität gesehen: Jugendliche, die bereit waren, ihre Freiheit aufzugeben, um andere Menschen zu schützen. Da gab es eine große Bereitschaft zum Helfen. Und diese Solidarität wünsche ich mir auch in anderen Bereichen. Ein Terroranschlag betrifft uns alle. Wenn jemand antisemitisch beleidigt wird, geht es nicht nur um die Juden in Deutschland, sondern darum, wie krank unsere demokratische Gesellschaft ist. Da kann ich nicht sagen: Das hat mit mir nichts zu tun. Sondern: Ich muss handeln.

Sie forderten kürzlich ein nationales Gipfeltreffen zum Thema Integration. Wir haben aber doch schon den regelmäßigen Integrationsgipfel...

Mansour: Das sind Gipfel des Scheiterns. Aus unterschiedlichen Gründen. Wo sind dort die kritischen Stimmen? Warum werden sie nicht eingeladen? Hat die Regierung Angst, dass die wunderbare Stimmung mit der Überschrift "Wir haben doch alles geschafft" gestört wird? Da sind genug Leute dabei, die uns sagen wollen, alles läuft großartig, wir haben keine gescheiterte Integration, das sind nur die Narrative Rechtsradikaler. Ich frage mich: Was haben muslimische Verbände mit Integration zu tun? Sind sie dazu überhaupt in der Lage, wenn sie in ihren Moscheen im großen Stil Werte vertreten, die im Widerspruch zur Gleichberechtigung und zur Meinungsfreiheit stehen?

Eine Ihrer Forderungen: Der Staat soll reformorientierte Muslime fördern. Darf der Staat das?

Mansour: Der Staat hat sich längst entschieden, das zu tun. Er bildet Islamwissenschaftler aus, Imame, betreibt Programme zur Integration in Moscheen... Das Problem mit dem Islam in Europa ist, dass er hier nicht historisch gewachsen ist. Wenn Fatwahs von Saudi-Arabien, Katar oder der Türkei Einfluss auf die Muslime hier haben, dann müssen wir uns unabhängig machen von diesem Islam. Deshalb finde ich es großartig, einen europäischen Islam zu schaffen. Aber das geht nicht mit den alten Spielern und Regeln. Leider versucht das aber auch Innenminister Horst Seehofer, für mich eine unfassbare Enttäuschung in diesem Bereich, weil er nur den alten Playern wie dem Zentralrat der Muslime und anderen konservativen Verbänden vertraut. Mit ihnen kann es keinen modernen, liberalen, aufgeklärten Islam geben.


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Stimmen für diesen modernen Islam gibt es: Sie, Seyran Ates, Mouhanad Khorchide...

Mansour: Auch Khorchide hat Probleme, wird attackiert. Wir waren mal die Lieblinge der Deutschen. Jetzt sind wir unbequem, weil wir eine Debatte anstoßen, der viele aus dem Weg gehen wollen. Nun sind wir die Krawallmacher, die Rechtsradikalen... dagegen wehre ich mich. Ich handle nicht, weil ich Muslimen schaden will, sondern ich handle als Muslim.

Waren wir schon mal weiter?

Mansour: Ich glaube, wir waren weiter, als wir nicht so viel über dieses Thema sprachen. Die Menschen waren da auf sich gestellt und haben sich auch mit großen individuellen Leistungen integriert. Jetzt habe ich den Eindruck: Wir geben enorm viel Geld aus, aber das ist nicht sehr zielführend. Da gibt es tolle Projekte und Flüchtlinge, die sich trotz der Programme integriert haben. Aber ich sehe kein nationales Konzept. Ich sehe nicht, dass wir uns einig sind, was wir von den Menschen erwarten, die zu uns kommen.

Wie definieren Sie Integration? Wann ist jemand integriert?

Mansour: Für mich ist Integration nicht Assimilation, sondern bedeutet, emotional in einer Gesellschaft anzukommen, und deren Werte als Chance zu sehen. Integration ist nicht nur "Sprache plus Arbeit minus Kriminalität". Es geht ums Wegnehmen von Angst, sich auf die Grundwerte einer Gesellschaft einzulassen. Wer zum Beispiel Angst hat, seine Tochter in sexueller Selbstbestimmung leben zu lassen, wer Angst hat vor Meinungsfreiheit – der ist nicht integriert, sondern nur der, der diese Werte akzeptiert und als Bereicherung sieht.


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Sie schreiben, Rassismus sei keine Einbahnstraße, und schildern den Fall einer deutschen Schülerin, die als einzige ohne Migrationshintergrund in ihrer Klasse gemobbt wird. Was tut man dagegen?

Mansour: Wir tun gut daran, wenn wir auch dies als Rassismus begreifen – wenn Deutsche attackierte Minderheiten sind. Die Rassismus-Debatte wird bei uns teils von Radikalen geführt, die einen ideologischen Plan verfolgen. Für sie können nur Minderheiten rassistisch verfolgt sein. Für mich ist aber auch der viel zitierte "Alte weiße Mann" eine rassistische Zuschreibung. Und diese schreckliche Tat in Frankreich hat nicht nur Einfluss auf die Franzosen, sondern auch auf die Lehrer hier. Die schreiben mir: Ich habe Angst. Zu viele schweigen bei solchen Themen lieber, weil sie Angst haben, als rassistisch diffamiert zu werden.

Ich lese von einem Islamwissenschaftler, der sagt: Na ja, jetzt die Karikaturen über Erdogan in Charlie Hebdo zu veröffentlichen, das sei doch wie Öl ins Feuer zu werfen. Und ich frage mich: Ist unsere Meinungsfreiheit Öl oder Feuer? Sollen wir wegen Einschüchterungen aus Ankara sagen: Die besseren Menschen sind die, die so etwas nun vermeiden? Nein, wir müssen sagen: Wir schützen das jetzt. Denn Aufklärung und Freiheit existieren nur, wenn diese Karikaturen veröffentlicht werden können. Das haben viele nicht begriffen.

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