Amoklauf in Gymnasium: Die Lehren aus Ansbach

16.9.2019, 05:57 Uhr
Amoklauf in Gymnasium: Die Lehren aus Ansbach

Die Episode mit der Facharbeit lässt sich heute leicht als Hinweis auf die spätere Tat des 18-Jährigen vor genau zehn Jahren am Ansbacher Gymnasium Carolinum werten. Georg R. heißt der heute 28-Jährige, der seit dem Prozess gegen ihn unter strengen Sicherheitsauflagen in Bezirkskliniken im Freistaat lebt.

Lockerungen wurden bisher verweigert. Seiner Deutschlehrerin bot er Monate vor dem Gewaltausbruch an, über Hermann Hesses Novelle "Klein und Wagner" zu schreiben. Sie lehnte damals ab – es gebe zu wenig Sekundärliteratur.

Vor allem Hesses Protagonist Wagner ist im Kontext des Amoklaufs ein wichtiger Fingerzeig. Diese literarische Figur gab es wirklich unter demselben Namen. Am 4. September 1913 tötete Ernst August Wagner in Stuttgart seine Frau und seine vier Kinder mit einem Knüppel. Danach fuhr er nach Mühlhausen an der Enz, wo er von 1901 bis 1902 Lehrer gewesen war. Nachts zündete er vier Häuser an und wartete, bis die Bewohner vor den Flammen flüchteten. Er erschoss neun Menschen, elf weitere wurden schwer verletzt.

Er hatte es dabei ausschließlich auf die Männer von Mühlhausen abgesehen; dass er auch drei Mädchen erschoss und eine Frau verletzte, war das Einzige, was er bei der Vernehmung am Landgericht Heilbronn später bedauerte. Wagner wurde schließlich überwältigt. Eigentlich hatte er noch weitere Morde geplant. 64-jährig starb er 1938 in einer Heil- und Pflegeanstalt in Winnenden.

Nur ein Brandsatz zündete

Georg R. hatte es auch mit Feuer versucht. Am 17. September 2009 stürmte er um 8.30 Uhr die Schule, bewaffnet mit einem Beil, zwei Messern und drei Molotowcocktails. Er schleuderte zwei Brandsätze in Klassenzimmer, aber nur einer zündete.

Als die Schüler aus dem Raum flüchteten, schlug er mit dem Beil wahllos auf sie ein. Ein Mädchen erlitt ein offenes Schädel-Hirn-Trauma, ein weiteres schwere Verbrennungen; acht Schüler wurden leicht verletzt. Um 8.43 Uhr bedrohte R. in einer Toilette Polizisten. Die Beamten schossen dreimal auf Arm, Bein und Bauch. Schwer verletzt wurde der Angreifer abtransportiert.

Wenig später traf damals Alfred Stahl an dem Gymnasium ein. Er gehörte zur Verhandlungsgruppe der Polizei. Das sind speziell geschulte Beamte, die in kniffligen Situationen mit Tätern, Opfern und deren Angehörigen sprechen. Stahl ist heute Polizeidirektor und einer der Experten des Präsidiums Mittelfranken zur Vorbeugung gegen Amokläufe. Er spricht von "lebensbedrohlichen Einsatzlagen", weil nach Explosionen oder beispielsweise nach dem Amoklauf am Olympiaeinkaufszentrum oft erst unklar ist, was wirklich vorgefallen ist.

Was sich seit Ansbach 2009 verändert hat? Taktisch ist die Polizei bei ihrem Konzept geblieben, das sie seit 1999, angestoßen durch das Massaker in einer Schule in Columbine im US-Bundesstaat Colorado, immer mehr verfeinert. Das Ziel: möglichst schneller Zugriff.

Hatten Streifen früher gewartet, bis Spezialeinsatzkommandos vor Ort waren, müssen sie jetzt selber handeln. Das hatte sich auch in Ansbach bewährt, wo der Täter nach 13 Minuten außer Gefecht war. Allerdings mussten die Streifen erst für solche gefährlichen Einsätze ausgerüstet werden. Lange, schusssichere Westen anziehen, Spezialwaffen entsichern – und schon geht es los.

Polizeiarbeit fängt früher an

Polizeiarbeit fängt für Stahl aber viel früher an. Schon in den 1990er Jahren hatten sich Vertreter von Polizei und Jugendarbeit zusammengesetzt, um Vorbeugungsprogramme zu besprechen. Grundlage war in Nürnberg der Sicherheitspakt zwischen Kommune und Landespolizei.

Stahl schmunzelt, wenn er an die gegenseitigen Vorurteile denkt, die es damals gab. Doch die Gesprächsbereitschaft wuchs, und als nach den Amokläufen von Erfurt (2002) und Winnenden (2009) und auch Ansbach die Sicherheitskooperation mit den Schulen ausgebaut wurde, war Stahl im Bereich der Polizeiinspektion Nürnberg-West in 50 Schulen unterwegs.

Im Ansbacher Carolinum gab es 2009 noch keine Lautsprecher an der Schule. Wichtig für schnelle Hilfe sind auch Informationen über die Architektur der Gebäude. Wo liegt was? Wo wäre im Notfall ein geeigneter Sammelplatz?

Stahl geht es immer auch darum, Lehrkräfte zu sensibilisieren. Welcher Schüler ist auffällig? Braucht er pädagogische Hilfe oder eine Gefährderansprache der Polizei? Heute könnte sich eine Lehrkraft ratsuchend an Sozialarbeiter und Polizei wenden, wenn sich ein Schüler allzu intensiv mit Amokläufen befasst – und sei es literarisch über Herrmann Hesse.

Sicherheitskonzepte sind keine einmalige Angelegenheit, die dann in einem Ordner schlummern. Sie müssen jedes Jahr erneuert, mit den Lehrkräften neu besprochen werden. Anti-Mobbing-Projekte begrüßt Stahl – der Täter von Ansbach hatte Mobbing als Motiv angegeben.

Notfallseelsorger spielen besondere Rolle

Wenn es tatsächlich zu einer "lebensbedrohlichen Lage" kommt, spielen Notfallseelsorger und Kriseninterventionsteams eine besondere Rolle. Das war in Ansbach so, das ist inzwischen Standard. Stahl begrüßt zudem die Initiativen, traumatisierten Menschen zu helfen, sehr.

Neu ist, dass die Polizei zunehmend auf die "mediale Eskalation" achten muss. Live-Videos kursierten nach den tödlichen Schüssen in München binnen Sekunden über soziale Netzwerke. Hysterie machte sich breit. Manche Anrufer meldeten Dutzende Bewaffnete: Es waren zivile Kräfte der Polizei, die als solche nicht erkennbar waren. Aber für die Polizei waren es lauter neue Schauplätze in einer ohnehin unübersichtlichen Lage.

Darauf haben die Präsidien reagiert und informieren nun selbst via Facebook und Twitter, gerade in heiklen Situationen. Polizisten in Zivil tragen Jacken mit der Aufschrift "Polizei". Ob das hilft? Stahl antwortet ganz nüchtern: "Absolute Sicherheit können wir nicht garantieren." Aber er verweist auch darauf, dass in Ansbach vor zehn Jahren der bisher letzte Amoklauf an einer Schule in Bayern stattgefunden hat.

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