Kanzlerkandidatin im Interview

Baerbock: "Wir können nicht weiterhin so unter Wert regiert werden"

17.9.2021, 08:11 Uhr
Annalena Baerbock, Kanzlerkandidatin und Bundesvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, gibt Reportern der Deutschen Presse-Agentur ein Interview. 

© Kay Nietfeld, dpa Annalena Baerbock, Kanzlerkandidatin und Bundesvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, gibt Reportern der Deutschen Presse-Agentur ein Interview. 

Zeitweise schien Platz eins bei der Bundestagswahl denkbar für die Grünen. Das ist vorbei. Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock gibt sich dennoch unverdrossen - und teilt im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur aus gegen die aktuelle Koalition aus Union und SPD.

Frage: In Umfragen kommen die Grünen derzeit auf 15 bis 17 Prozent. Dennoch sprechen Sie weiter von der Möglichkeit einer grün geführten Regierung. Ist das nicht vermessen?

Baerbock: Wir haben in den letzten Monaten gesehen, wie schnell Umfragen rauf und runter gehen und deswegen richte ich meine Politik nicht nach Umfragen aus, sondern nach dem, was in diesem Land möglich ist. Ich bin an vielen Orten unterwegs und oft ist zu spüren, dass viele sagen: Wir können nicht weiterhin so unter Wert regiert werden wie in diesen Jahren der Groko, wo immer erst reagiert wurde, wenn es bereits zu spät war. Viele Menschen sind in der Pandemie über sich hinausgewachsen in Kitas, in Schulen, in Gesundheitseinrichtungen, aber auch in der Industrie, in der zahlreiche Betriebe sagen: Wir können klimaneutral wirtschaften. Deswegen ist es jetzt auch endlich an der Politik, über sich hinauszuwachsen.

Und dafür treten wir an. Ich als Kanzlerkandidatin, weil es einen großen Unterschied macht, ob die nächste Bundesregierung grün und damit mit dem Anspruch auf Erneuerung geführt ist oder nicht. Und ja, dafür brauchen wir noch einige Wählerstimmen mehr.

Frage: Ihre Kampagne beruht auf der Annahme, dass die Menschen einen großen Wandel in Deutschland wollen. Ist Olaf Scholz nicht der wandelnde Gegenbeweis?

Baerbock: Die Wahl findet in etwas mehr als einer Woche statt und die Wählerinnen und Wähler können - das ist das Schöne in einer Demokratie - frei entscheiden. Und natürlich merken die Menschen, dass wir mitten in großen Umbrüchen stehen, und sie erwarten auch, dass wir diese im Sinne eines sicheren und guten Lebens gestalten. Deswegen steht jetzt die Entscheidung an: Ein Weiter-so als wäre nichts mit der Groko? Oder entscheiden wir uns für einen echten Aufbruch, für eine mutige Politik der Veränderung, der Vorsorge und der Vorausschau? Ich bin zutiefst davon überzeugt: Gerade mit Blick auf die Klimakrise ist das größte Risiko, nichts zu tun. Das haben wir auf dramatische Art und Weise bei den Hochwassern im Sommer in Deutschland gesehen. Deswegen ist für mich ganz klar: Beim Klimaschutz darf es keine halben Sachen mehr geben.


Frage: Sie wollen eine europäische Asylreform vorantreiben, auch wenn nicht alle Staaten im Boot sind - genau an diesem Mangel an Einigkeit scheitert der Versuch einer Reform ja seit Jahren. Wie stellen Sie sich das vor?

Baerbock: Ich möchte, dass wir mit denjenigen Staaten vorangehen, die bereit sind, das Leid an den Außengrenzen zu beenden und für eine humane und geordnete Flüchtlingspolitik in der EU eintreten. Dabei geht es zunächst um Freiwilligkeit durch Anreize. Wir können nicht so lange warten, bis der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban bereit ist, über europäische Flüchtlingspolitik zu reden. Das ist keine verantwortungsvolle europäische Politik. Europa ist immer daran gewachsen, dass einige Staaten sich zusammengetan haben und deutlich gemacht haben: Das ist unser gemeinsames Europa, wir bauen Europa weiter.

Wir wollen die Außengrenzen kontrollieren, damit wir wissen, wer nach Europa kommt. Aber klar muss auch sein: Der Zugang zum Grundrecht auf Asyl muss immer gewährleistet sein, wir dürfen die Werte Europas nicht im Mittelmeer untergehen lassen.

Frage: Was hieße das konkret?

Baerbock: Wir müssen den Vorschlag des Europäischen Parlaments umsetzen, der schon seit Jahren auf dem Tisch liegt. Menschen, die an den Außengrenzen ankommen, werden in gemeinsamen Erstaufnahmeeinrichtungen untergebracht, überprüft, und dann schnellstmöglich innerhalb Europas verteilt. Dabei erhalten die Staaten, die Geflüchtete aufnehmen und deren Asylverfahren durchführen, Unterstützung aus einem EU-Fonds. Alle anderen zahlen einen fairen Beitrag. Für mich gibt es keine Ausreden mehr, warum wir als Deutschland nicht mit elf oder zwölf anderen Ländern innerhalb der EU für eine humane Flüchtlingspolitik sorgen sollen.

Es ist ein Irrglaube gerade der Konservativen, dass Abschottungspolitik für mehr Ordnung sorgt. Wir haben erlebt, dass das in eine absolute Sackgasse führt. Denn so sind die Europäerinnen und Europäer zum Spielball von antidemokratischen Akteuren wie zum Beispiel dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan geworden.

Frage: Ungarn oder Polen bekämen Sie für so eine Initiative absehbar nicht ins Boot. Würden Sie von diesen Ländern erwarten, dass sie sich finanziell beteiligen?

Baerbock: Ja. Genau dieser Vorschlag wird auf europäischer Ebene ja auch diskutiert. Nur Länder, die sich beteiligen, bekämen europäische Gelder für Integration und Aufnahme von Flüchtlingen.

Frage: Anderes Thema: Die Spitzenkandidatin der Grünen für die Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus, Bettina Jarasch, sagt, sie würde in letzter Konsequenz auch die Enteignung von Wohnungsbaugesellschaften befürworten, um neuen Wohnraum zu schaffen. Sie auch?

Baerbock: Wir können die Situation in Berlin, aber auch in anderen Großstädten, nicht einfach ignorieren. Da werden Menschen aus ihrem Kiez vertrieben, Familien, Rentnerinnen, Polizisten, Krankenschwestern, weil sie sich die Miete nicht mehr leisten können. Bettina Jarasch hat mit dem Berliner Mietenschutzschirm als einzige Bürgermeisterkandidatin eine Lösung vorgelegt, um die zugespitzte Situation am Berliner Wohnungsmarkt auch ohne Enteignung aufzulösen.

Frage: Aber Frau Jarasch schließt Enteignungen in letzter Konsequenz eben nicht aus. Sie auch nicht?

Baerbock: Ich halte es für richtig, sich mit den Menschen an einen Tisch zu setzen und zu überlegen: Wie machen wir eine Stadt wieder zu einer Stadt für alle - mit Vierteln, in denen Menschen mit unterschiedlichen Einkommen leben? Ich bin optimistisch, dass wir am Ende bessere Lösung finden werden als eine für die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler vermutlich teure Enteignung der Wohnungsgesellschaften. Auf Bundesebene setze ich auf einen Dreiklang: mehr sozialen Wohnungsbau, eine wirksamere Mietpreisbremse ohne die vielen Ausnahmen und eine generelle Obergrenze für Mieterhöhungen von 2,5 Prozent im Jahr.

Frage: Dass diese Wohnungen sich heute überhaupt im Besitz privater Wohnungsgesellschaften befinden, ist doch eine Folge politischer Entscheidungen nach der Jahrtausendwende, als das Land Berlin diese Wohnungen selbst verkauft hat. Finden Sie es nicht problematisch, diese politischen Entscheidungen jetzt möglicherweise über Enteignungen zu korrigieren?

Baerbock: Die Misere, in die wir in vielen großen Städten hineingeraten sind, ist das Erbe einer Politik von SPD und Linkspartei in Berlin, weil sie die öffentlichen Wohnungen verkauft haben, und das zu einem Spottpreis. Und es ist auch eine Folge davon, dass die Große Koalition auf Bundesebene, die Mittel für den sozialen Wohnungsbau wieder auf eine Milliarde reduzieren will, obwohl schon jetzt stündlich drei Wohnungen aus der Sozialbindung herausfallen. Wir brauchen 100 000 neue Sozialwohnungen pro Jahr, die Mittel der Großen Koalition reichen vielleicht etwa für ein Zehntel davon.

Das zeigt, dass auch auf die Sozialdemokraten im Bereich faire Mieten und bezahlbarer Wohnraum, wenn's drauf ankommt, kein Verlass ist. Für mich heißt das auf Bundesebene, die Gemeinnützigkeit endlich wieder einzuführen, damit Vermieter, die sich zu Sozial- und Mietenbindung langfristig verpflichten, steuerliche Vorteile und Investitionszulagen erhalten. Und das bedeutet für mich zudem, dass wir nicht wie Olaf Scholz und Armin Laschet nur von Bauen, Bauen, Bauen reden können. Stattdessen muss es eine klare Ausrichtung auf bezahlbaren Wohnungsbau geben. Denn Luxuswohnungen haben wir in Deutschland schon zur Genüge.

Frage: Wohnungsnot ist vor allem in großen Städten ein Problem. Auf dem Land hingegen fehlt es mancherorts an Infrastruktur. Was wollen Sie dort machen?

Baerbock: Ich bin selber auf dem Dorf großgeworden und weiß, dass wir nach wie vor viele, viele Regionen haben, wo man nicht einfach sagen kann, man soll auf Bus oder Bahn umsteigen. Sei es, weil der Bahnanschluss in den letzten Jahren stillgelegt worden ist, oder aber der Bus am Wochenende überhaupt nicht fährt. Der im Grundgesetz festgeschriebene Grundsatz gleichwertiger Lebensverhältnisse bedeutet für mich, dass alle Menschen in unserem Land das Recht haben, mobil sein zu können, egal ob sie einen Führerschein haben oder nicht. Und die Hälfte der Menschen in unserem Land fährt gar kein Auto.

Deswegen möchte ich, dass bei uns in jedem Ort ab 500 Einwohnern zwischen 6.00 und 22.00 Uhr mindestens stündlich ein Bus oder eine Bahn fährt. In Regionen, wo wenig Menschen leben, sind es dann Kleinbusse. Und vor allen Dingen brauchen wir eine Reaktivierung stillgelegter Bahnstrecken. Natürlich heißt das auch, dass an jeder Milchkanne, wie es so schön heißt, ein Glasfaseranschluss sein muss. So wie es überall Briefkästen gibt, brauchen die Menschen auch einen schnellen Internetanschluss.

Frage: Das wird sehr teuer.

Baerbock: Diese Investitionen kosten Geld, ja. Aber wenn wir in unsere Infrastruktur nicht weiter investieren, dann hinterlassen wir unseren Kindern nicht nur marode Brücken und Schienen - schon heute ist zum Beispiel jede sechste Brücke marode. Wenn wir nichts dagegen tun, dass im ländlichen Raum Schulen kein Internet haben und Ärzte dort aufgrund schlechter Arbeitsbedingungen nicht arbeiten wollen, dann schwächen wir diese Regionen zusätzlich. Deshalb ist es so wichtig, jetzt in diese Bereiche zu investieren. Daher schlagen wir für Investitionen in die Infrastruktur unseres Landes eine Erweiterung der Schuldenbremse vor.

Frage: Damit wird es aber sehr schwierig, eine Regierung mit der Union oder der FDP zu bilden.

Baerbock: FDP und CDU haben in den letzten Wochen ja auch offensichtlich erkannt, dass es nicht einfach reicht, auf Plakate zu schreiben "Wir modernisieren", sondern dass die Menschen zu Recht fragen "Wo soll denn eigentlich das Geld herkommen?" Immer mehr Wirtschaftswissenschaftler weisen darauf hin, dass wir ohne diese Investitionen die Infrastruktur und damit auch die Wirtschaftskraft unseres Landes gefährden. Wir haben konkrete Vorschläge gemacht, wie wir die Investitionen stemmen - über eine Reform der Schuldenbremse. Ich sehe nicht, wie die nächste Bundesregierung ohne solche Investitionen überhaupt eine Zukunftspolitik in die Wege leiten kann.

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