"Bei Missbrauch müssen Behörden schneller eingreifen können"

16.9.2011, 06:55 Uhr

© Hippel

NZ: Herr Dr. Niklewski, in Willmersbach hat offenbar jeder von dem Inzest gewusst – und nichts unternommen. Wie ist das möglich?

Günter Niklewski: Das sehen wir jeden Tag; es geschehen Verbrechen, und alle gucken weg. Es ist im Repertoire menschlichen Verhaltens enthalten, dass wir uns solche Dinge schönreden und darüber hinweggehen, weil es zu anstrengend wäre, zu intervenieren. Vielleicht auch, weil es teilweise mit Angst verbunden ist.

NZ: Angst vor dem vermutlichen Täter führen Nachbarn als Grund an, nichts getan zu haben. Aber ein ganzes Dorf erzittert doch nicht vor einer Person.

Niklewski: Das nicht, aber erinnern Sie sich nur an Flachslanden, wo ein Ehepaar ebenfalls über Jahre hinweg Kinder missbrauchte, und kein Nachbar dagegen etwas unternommen hat. In jedem Dorf gibt es die Komischen. Auch die Willmersbacher Familie scheint auf der Kirchweih ihren eigenen Tisch gehabt zu haben. Das waren Sonderlinge. Die hatten irgendwann diesen Status – und dann hat niemand mehr hingeschaut.

NZ: Und selbst dabei den jahrzehntelangen Missbrauch einfach ignoriert?

Niklewski: Der Missbrauch ist – in Anführungszeichen – nur eine Dimension der allgemeinen Gewalttätigkeit, die in diesem asozial verrohten Klima geschehen ist. Wahrscheinlich handelte es sich beim Inzest nicht um das Hervorstechende. Das war wohl eher ein allgemein gewalttätiges Verhalten der männlichen Personen.

NZ: Auch da hat keiner eingegriffen.

Niklewski: Die Haltung, sich nicht einzumischen, ist bei Gewaltdelikten immer häufiger anzutreffen, etwa bei Schlägereien in U-Bahnen. Es ist in den letzten Jahren aus meiner Sicht ein zu weicher Umgang mit Gewalt und ihrer Androhung eingekehrt. Man versteht ja immer alles. Aber man muss manchmal auch eingreifen. In diesem Fall gab es über Jahre Interventionsbedarf, der nicht gesehen werden konnte, weil die Behörden nichts davon wussten.

NZ: Der Augenzeuge in der U-Bahn kennt das Opfer nicht, die Nachbarin aber war womöglich mit der missbrauchten Frau in der Schule.

Niklewski: Das macht es sehr viel schwieriger. Dorfgemeinschaften können sehr eng sein, mit schwierigen Loyalitätsverpflichtungen, weil man sich gut kennt. Das ist ähnlich wie in familiären Situationen. Das Prinzip der wegguckenden Mutter ist beim Missbrauch fast die Regel. Dass die Mütter die Opfer beschuldigen, den Täter verführt zu haben, ist ein Stereotyp.

NZ: Warum ist die heute 46-Jährige so lange im Elternhaus geblieben?

Niklewski: Wenn die Angaben stimmen, ist die Frau in einem besonders verletzlichen Alter, dem Eintritt der Pubertät, das erste Mal vergewaltigt worden. In aller Regel bilden sich über einen derartig langen Zeitraum Täter-Opfer-Beziehungen heraus, die höchst pathologisch sind. Psychologen nennen den Zustand erlernte Hilflosigkeit. Solche Systeme sind in ihrer ganzen Pathologie sehr stabil.

NZ: Haben die Bewohner auch geschwiegen, um die scheinbare Idylle nicht zu zerstören?

Niklewski: Die „Bei uns passiert so etwas nicht“-Haltung spielt immer eine Rolle. Es gehört dazu, dass man sich um den eigenen Ruf sorgt und erst einmal in Deckung geht und sagt: ,Die anderen werden es schon machen’. Das sind gruppendynamische Phänomene.

NZ: Wie geht das Dorfleben weiter?

Niklewski: Ich denke, die Einwohner gehen auf Tauchstation, und dann ist alles wieder wie es war. Wegducken und abwarten sind in solchen Situationen übliche Verhaltensweisen.

NZ: Was muss geschehen, damit so etwas nicht nochmal passiert?

Niklewski: Man muss deutlicher ins öffentliche Bewusstsein rücken, dass sexueller Missbrauch eine verbotene Aktion ist, die Menschen schädigt und traumatisiert. Es handelt sich um eine Straftat, und nicht um ein Fehlverhalten. Die aktuellen Debatten gehen in die richtige Richtung. Aber sexueller Missbrauch lässt sich nicht ausrotten.

NZ: Lässt sich konkret gar nichts tun?

Niklewski: Doch. Man muss Familien, in denen eine emotionale Verrohung herrscht, frühzeitig identifizieren und ihnen Hilfen zuteil werden lassen. Dabei sollten die zuständigen Behörden ein bisschen mehr Befugnisse erhalten, um zum Beispiel Kinder regelmäßig untersuchen zu können.

NZ: Also mehr staatliche Eingriffsmöglichkeiten in die Familien?

Niklewski: Es ist ein schmaler Grat zwischen staatlicher Kontrolle und dem Schutz der Privatsphäre. Aber bevor so ein Desaster passiert, hätte ein Eingriff vielleicht gut getan.

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