Bloß weg: Wieso Menschen aus Belarus in Franken Schutz suchen

18.4.2021, 06:00 Uhr
Minsk: Demonstranten halten historische belarussische Flaggen und nehmen an einem Protest der Opposition teil. 

© Uncredited, dpa Minsk: Demonstranten halten historische belarussische Flaggen und nehmen an einem Protest der Opposition teil. 

Es ist der 9. August 2020. Michail (40), der seinen vollen Namen nicht in der Zeitung lesen möchte, hält sich an jenem Abend mit Hunderten anderen an einem Wahllokal in Minsk auf, um die Bekanntgabe der Ergebnisse mitzubekommen. Er habe nicht geahnt, dass dieser Tag sein Leben komplett verändern werde, sagt er.

Bei der Präsidentschaftswahl will sich Alexander Lukaschenko für eine sechste Amtszeit bestätigen lassen. Seit seinem ersten Wahlsieg 1994 wurde keine weitere Präsidentschaftswahl in Belarus von der OSZE als demokratisch eingestuft. Um Wahlfälschungen zu dokumentieren, forderte die von belarussischen Programmierern ins Leben gerufene Beobachtungsorganisation Golos die Wähler dazu auf, ihre Wahlzettel abzufotografieren und ihnen zuzusenden. Ihr Ergebnis: Wahlfälschungen sind in jedem dritten Wahllokal nachweisbar. Ungeachtet dessen verkündete die Zentrale Wahlkommission einen Sieg Lukaschenkos mit 80,1 Prozent der Stimmen.

Die gefährliche Wahlnacht von Minsk

Am Wahlabend ist das Internet in Belarus von schweren Netzstörungen betroffen. Sie werden insgesamt drei Tagen andauern. Aufgrund der gedrosselten Internetverbindung informieren sich die Menschen gegenseitig per Telefon darüber, wie die einzelnen Ergebnisse der Wahllokale lauten, so Michail.

Als der Wahlsieg Lukaschenkos verkündet wird, sieht er darin einen deutlichen Betrug. Zusammen mit rund 130 Gleichgesinnten beschließt er, vom Wahllokal in Richtung Innenstadt zu ziehen, um der Forderung nach fairen Wahlen Nachdruck zu verleihen.

Alexander Lukaschenko regiert das Land seit dem Jahr 1994. Bei der Präsidentschaftswahl im vergangenen Jahr soll er 80,1 Prozent der Stimmen erhalten haben. 

Alexander Lukaschenko regiert das Land seit dem Jahr 1994. Bei der Präsidentschaftswahl im vergangenen Jahr soll er 80,1 Prozent der Stimmen erhalten haben.  © Pavel Orlovsky, dpa

Es dauert nicht lange, bis seine Gruppe ins Fadenkreuz der Sicherheitskräfte gerät: "Es ist schwer zu erklären, aber ich war bereit für so etwas. Ich hatte vier komplette Erste-Hilfe-Sets in meinem Rucksack. Ich bin kein Doktor, aber aus irgendeinem Grund habe ich das alles einen Tag im voraus in der Apotheke gekauft." Michails Protestkolonne sei mit Blendgranaten beschossen worden, erinnert er sich. Er selbst habe Verletzungen davon getragen, welche eine Teilnahme an den Protesten der darauffolgenden Nächte verhindert hätten. Michail sieht darin aber keinen Grund, deswegen aufzugeben.


Belarus statt Weißrussland: So lautet die korrekte Bezeichnung


Über den Messenger-Dienst Telegram lernt er Gleichgesinnte und dadurch auch neue Freunde kennen, mit denen er an diversen Kundgebungen teilnimmt. Michail wird zum Administrator einer regionalen Chatgruppe und gründet später weitere Gruppen, über welche er die Proteste koordiniert.

"Unsere Verwandten waren stolz auf uns, denn alle sind gegen das Regime. Aber die einzigen, die zu den Protestmärschen gingen, waren meine Frau und ich", führt Michail aus. "Ich wurde gefragt, wieso ich keine Angst habe. Angst hat einen Rahmen und dieser Rahmen bewegte sich von Woche zu Woche".

Hunderte dokumentierte Fälle von Folter

Menschen, die in Belarus demonstrieren, setzen sich großen Risiken aus. Einem Bericht des UN-Kommissars für Menschenrechte zufolge wurden 450 Fälle von Folter und Misshandlungen von im Umfeld der Wahl inhaftierten Personen dokumentiert.

Dazu gehörten Fälle von Gewalt gegen Frauen und Kinder, einschließlich sexuellen Missbrauchs und Vergewaltigung. Mehrere Menschen wurden im Verlauf der Proteste durch Sicherheitskräfte getötet. Bis heute wurde wegen dieser Vorfälle nicht ein einziges Strafverfahren eingeleitet.


Massive Polizeigewalt gegen friedliche Demonstranten in Belarus


Am Abend des 2. Oktober klingeln drei Beamte an Michails Wohnung, erzählt er. "Ich habe die Tür nicht aufgemacht. Am darauffolgenden Morgen beschlossen sie, mit einem Feuerwehrauto und einer Leiter in unser Fenster zu klettern. In die fünfte Etage. Ich habe mich zu Tode erschreckt. Meine Frau und ich konnten wie durch ein Wunder entkommen."

Einige Wochen leben sie mit ausgetauschten Mobiltelefonen auf einem Bauernhof. Lebensmittel bekommen sie von ihren Angehörigen. Wegen der Organisation von nicht genehmigten Kundgebungen sei Michail dann aufgefordert worden, vor der Staatsanwaltschaft zu erscheinen. Das war der Moment, in dem er sich entschieden hat, seine Heimat zu verlassen.

Michail wohnt derzeit mit seiner Ehefrau in einer Wohnung für Asylbewerber in Nürnberg. Tatiana (39) aus Salihorsk hat eine ähnliche Geschichte zu erzählen. Auch sie lebt nun in einer Asylunterkunft in Nürnberg, zusammen mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern. Insgesamt sind über 24.000 belarussische Staatsangehörige in Deutschland sesshaft. Nun kommen aufgrund der Repressionen zahlreiche Asylbewerber hinzu. Die Anerkennungsquote für Asylbewerber aus Belarus lag im letzten Jahr bei unter fünf Prozent.

Vom Streikkomitee ins Fadenkreuz der KGB

Als Tatiana am Morgen des 12. August erstmals nach der dreitägigen Internetblockade wieder online gehen kann und vom Ausmaß der Gewalt erfährt, sei sie vor Entsetzen erschaudert, erzählt sie. Auch innerhalb ihres Freundes- und Bekanntenkreises seien mehrere Menschen von Vertretern der Sicherheitsorgane verhaftet und zusammengeschlagen worden.

Der Sohn einer Freundin sei in der berüchtigten Minsker Haftanstalt Akreszina gelandet. Und das ist nur ein Beispiel von vielen. "Sie weigert sich überhaupt zu erzählen, was dort mit ihrem Sohn passiert ist, weil sie nicht daran zurückdenken möchte" teilt Tatiana mit. In diesem Gefängnis wurde auch ein Video aufgenommen, das zeigt, wie Gefangene durch die Reihen von Beamten gejagt und dabei mit Schlagstöcken verprügelt und getreten werden.


Nürnberg: Junge Menschen demonstrierten für Demokratie in Belarus


Zusammen mit ihrem Mann arbeitet Tatiana für das staatliche Unternehmen Belaruskali, das in seinen Bergwerken Kalisalze abbaut. Gemeinsam mit anderen Kollegen beschließen sie in den Streik zu treten, um neue Wahlen sowie einen fairen Prozess zu fordern, gegen diejenigen, die für diese Gewalt verantwortlich sind. Der Streik hält jedoch nur zwei Tage und weckt die Aufmerksamkeit des Geheimdienstes KGB. Sie seien befragt und psychischem Druck ausgesetzt worden. "Sie warnten vor negativen Folgen, die unsere Beteiligung am Streik auf unsere Familie haben würden und verwiesen ausdrücklich darauf, dass wir zwei minderjährige Kinder haben", erinnert sich Tatiana.

Die Staatsanwaltschaft leitete gegen sie und ihren Mann ein Strafverfahren ein, wegen des Aufrufs zu Handlungen, die auf die Schädigung der nationalen Sicherheit abzielen. Ihnen drohen Haftstrafen von zwei bis fünf Jahren. Weil sie rechtzeitig von einem bereits geflohenen Bekannten gewarnt werden, gelingt es ihnen, nach Deutschland zu entkommen.

Lukaschenko bleibt stur

Amtsinhaber Alexander Lukaschenko zeigte sich hinsichtlich der Forderungen der Protestbewegung wenig einsichtig. Bei einem Werksbesuch vor streikenden Arbeitern brachte er dies sehr deutlich zum Ausdruck: "Wir haben Wahlen abgehalten. Solange ihr mich nicht tötet, wird es keine andere Wahl geben."

Wann Tatiana, Michail und ihre Familien daher in ihre Heimat zurückkehren können, wissen sie nicht. Solange sich die politische Lage in Belarus nicht ändert, kommt es für sie jedenfalls nicht in Frage.

1 Kommentar