Coronakrise: Ein Sommer des Verzichts - und der Erkenntnis

21.4.2020, 14:31 Uhr
Ein Feierabendbier im lauschigen Biergarten wird eine Weile lang nicht möglich sein.

Ein Feierabendbier im lauschigen Biergarten wird eine Weile lang nicht möglich sein.

Meine Großmutter wurde 1895 geboren. Sie erlebte den Ersten Weltkrieg als junge Frau und den Zweiten Weltkrieg als Mutter von drei Kindern, die sie neben dem kleinen Geschäft der Familie ganz alleine erziehen und bis über das Kriegsende hinaus irgendwie durchbringen musste. Ihr Mann war "im Feld".



Ich selbst kam 1955 zur Welt. Die Trümmer des Kriegs waren da schon weggeräumt, Not habe ich nie erlebt. Wenn ich nach der Schule meine Großeltern besuchte – was ich als Kind schon allein wegen ihrer Süßwarengroßhandlung und als Jugendlicher wegen ihres Tabakwarenhandels gern tat – war trotz längst friedlicher Zeiten immer wieder vom Krieg die Rede. Es war die prägende Erfahrung im Leben der beiden alten Menschen.

Wenn ich mich als Kind über die Sparsamkeit meiner Großmutter lustig machte und beispielsweise nicht verstehen wollte, warum sie jede leere Milchtüte auswusch und aufhob, um sie mir irgendwann mit Feldsalat aus dem Garten gefüllt mit nach Hause zu geben, bekam ich einen ihrer Standardsätze zu hören: "Es muss wieder mal ein Krieg kommen."

Meine Oma Luise war nicht kriegslüstern. Aber dass sich nach ihrem Empfinden schon in den 60er und 70er Jahren niemand mehr an die entbehrungsreichen Zeiten erinnern wollte, dass sich alle an Wohlstand und Überfluss gewöhnt hatten, hielt sie für eine ganz besonders dumme und dekadente Art von Geschichtsvergessenheit. Dafür fehlte ihr jedes Verständnis. Und ich Wirtschaftswunderkind verstand sie nicht.

Ein anderes Leben

Seit ein paar Wochen zwingt uns ein Virus zu verschiedenen Formen des Verzichts. Wir müssen keinen Hunger leiden, und uns fallen keine Bomben auf den Kopf, aber unser Leben ist nicht mehr das alte. Wir müssen lernen, mit Entbehrungen zu leben. Auch all jene, denen die Corona-Pandemie nicht die berufliche Existenz zu zerstören droht oder denen das verminderte Kurzarbeitergehalt den persönlichen Etat ins Wanken bringt.

Was uns schon nach vier Wochen zu schaffen macht, ist vor allem der erzwungene Verzicht auf menschliche Begegnungen. Da lebt man in einer angeblich von Individualismus, Egoismen, Entsolidarisierung und Anonymität geprägten Gesellschaft und stellt erstaunt fest, welch von Gemeinschaft und Sozialkontakt abhängiges Wesen man doch ist.

Jetzt mag es jedem etwas anders gehen, aber mir setzt weniger die Vorstellung zu, in diesem Sommer – vielleicht sogar im ganzen Jahr – auf eine größere Urlaubsreise verzichten zu müssen. Vielleicht liegt es am fortgeschrittenen Alter (man war schon oft genug weg) oder an der fränkischen Bodenständigkeit: Mir und vermutlich auch vielen anderen werden vor allem die kleinen Vergnügen des Sommers fehlen. Wir werden uns vorerst nicht nach Feierabend in einen lauschigen Biergarten setzen oder bei Willy, dem Stadtteil-Griechen, zufällig nette Nachbarn treffen und dann wieder mal ein bisschen länger sitzenbleiben.

Wir werden nicht am Wochenende mit dem Fahrrad zum Badeweiher bei Hersbruck fahren können. Es wird keinen Bummel durch die Blaue Nacht geben. Und wir werden nicht den Besuch beim Bardentreffen schwänzen müssen, weil ausgerechnet an dem Wochenende liebe Freunde zu einem großen Gartenfest oder zu einer auswärtigen Geburtstagsparty samt Übernachtung einladen.

Noch nicht einmal Schafkopf

Kein Konzertbesuch – weder Open Air noch im Saal, kein Theater, kein Stadionbesuch, kein Freibad. Kein Kino, keine zweitägige Radtour mit Wirtshausübernachtung, keine eigenen Grillabendeinladungen, kein Kirchweihbesuch. Noch nicht einmal eine Feierabend-Schafkopfrunde mit Kollegen, bei der man wieder viel zu viel über die Arbeit spricht ("Wer gibt jetzt eigentlich?") und ansonsten sehr viel Spaß hat.

Alles, was man sich leisten wird, werden Zusammentreffen mit den erwachsenen eigenen Kindern sein. Bei denen man sich dann wie ein Straftäter und irgendwie an George Orwells düstere Gesellschafts-Dystopie "1984" erinnert fühlt.

Was uns der Sommer 2020 am Ende lehren wird? Vor allem wohl, dass es uns ohne Virus-Epidemie verdammt gut geht. Dass unser Freizeitverhalten in normalen Zeiten außerdem viel zu oft in Richtung Stress tendiert. Und dass die wertvollsten Erlebnisse und Stunden die sind, in denen wir im Grunde ohne viel Spektakel mit lieben Menschen zusammenkommen.

Vor allem sollte uns die Coronakrise aber lehren, dass wir im Gegensatz zu Menschen in anderen Ländern noch immer das große Glück haben, keinen Krieg erleben zu müssen. Und dass die von meiner Großmutter herbeigesehnte Einsicht und Bescheidenheit auch möglich wurde, ohne dass sich die Völker die Köpfe einschlagen mussten.


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