Dauer-Alarmismus: Warum blanke Zahlen in der Corona-Krise nur verunsichern

23.11.2020, 06:00 Uhr

Es ist mittlerweile ein Ritual, irgendwo zwischen dem ersten Schluck Kaffee und dem Gang zum Bäcker. Tag für Tag, gegen 10 Uhr, stellt das Robert-Koch-Institut (RKI) in seiner Pressekonferenz die neuen Corona-Fallzahlen vor. Zehntausende verfolgen das "Briefing" allein auf YouTube. Wie schlimm ist es heute? Wohin steuert die Pandemie? Findet sich zwischen all den tiefroten Landkreisen Deutschlands, die die Sieben-Tage-Inzidenz und damit den Durchschnitt der Neuinfektionen anzeigen, ein gelber Fleck - und ist es sogar der eigene Wohnort? Das RKI demonstriert die totale Transparenz. Daten helfen zu verstehen, was passiert. Das stimmt. Nur wenn sie nicht erklärt werden, wenn Laien sie interpretieren oder gar politisch instrumentalisieren, dann wird es gefährlich.


Die Schicksalszahl: Was steckt wirklich hinter dem Inzidenzwert?


Bedrohungsszenarien wie die Triage nutzen sich ab, so grausam sie auch sein mögen. Ein Prozess, den Psychologen als Habituation, also einem Gewöhnungseffekt, beschreiben. Anfangs sorgte die drohende Gefahr übervoller Intensivstationen für Mobilisierung, Menschen waren einfach von der Notwendigkeit der Einschränkungen zu überzeugen. Sie war mittelbar, begreifbar, akut. Mittlerweile kapselt sich aber ein Teil der Gesellschaft ab, der das Coronavirus nicht leugnet, sondern die Kontaktbeschränkungen einfach satt hat. Das Klima, die Migrationswelle 2015, rechtsextreme Umtriebe - mediale Überbetonung sorgt nur für einen begrenzten Zeitraum für starke Reaktionen. Dann ist das Aufreger-Potenzial erschöpft. Der breite gesellschaftliche Rückhalt, der gerade in der Pandemie essenziell ist, bröckelt.

"Es hört nicht auf", titelte eine große Zeitung erst vor wenigen Tagen. Ständiger Alarmismus und Rekorde bei den Infektionszahlen machen müde, sie verbrauchen sich. Wer dauernd mit schrillen Bildern warnt, der bekommt dann, wenn es darauf ankommt, keine Unterstützung mehr für womöglich dramatische Einschnitte. Selbsternannten Corona-Skeptikern, die die Gefahr der Pandemie leugnen, spielt genau das in die Hände. Wissenschaft muss sagen, was ist - und Politik und Medien den Mut haben zuzugeben, was sie nicht wissen. Gerade in Krisenzeiten.

Ständiger Alarmismus macht müde

Medien sollten deshalb Zahlen nur im Kontext verwenden und ausreichend von Wissenschaftlern erklären lassen. Experten sollten das Rückgrat der Berichterstattung sein, nicht die Ziele der Politik. Das Deutsche Netzwerk für evidenzbasierte Medizin, ein Zusammenschluss von Forschern verschiedenster Professuren, mahnte erst vor wenigen Monaten genau das an. Es müsse differenziert werden zwischen positiv getesteten Menschen und tatsächlich Kranken. "Überhaupt muss mit Vehemenz kritisiert werden, dass die SARS-CoV-2-Inzidenzen fast ausschließlich als Absolutzahlen ohne Bezugsgröße berichtet werden", heißt es in einer Stellungnahme. Kumulierte Zahlen helfen nicht, sie müssen im Kontext gesehen werden. Genau hier braucht es Experten, die einordnen, basierend auf Fakten, die Laien womöglich gar nicht deuten können.

Eine Zahl, die mittlerweile fast gänzlich aus der Berichterstattung verschwunden ist, ist die der Genesenen. Mittlerweile liegt sie bei deutlich über einer halben Million. *

(* Insgesamt gibt es in Deutschland 855.916 bestätigte Coronavirus-Fälle. 562.700 Menschen gelten als genesen, die Zahl der aktiven Erkrankungen nennt das RKI mit rund 280.000. 13.370 Menschen starben an Covid-19. Stand: Freitag, 11 Uhr)

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