Deutsch-Israeli im NN-Talk: "Ich wurde angespuckt, erniedrigt und geschlagen"

6.8.2019, 06:38 Uhr
Der nach Deutschland importierte Nahost-Konflikt: Palästinensische Demonstranten verbrennen bei einer Demonstration 2017 in Berlin eine Fahne mit dem jüdischen Davidstern.

© Jüdisches Forum für Demokratie und gegen Antisemitismus e.V./dpa Der nach Deutschland importierte Nahost-Konflikt: Palästinensische Demonstranten verbrennen bei einer Demonstration 2017 in Berlin eine Fahne mit dem jüdischen Davidstern.

Herr Shalicar, Sie arbeiten heute für Israels Außenminister. Wie stellten Sie sich als 16-jähriger Berliner Gymnasiast und Straßengang-Mitglied die Zukunft vor?

Arye S. Shalicar: Damals hatte ich das Gefühl, dass meine Zukunft entweder Knast oder Tod ist. Dass ich entweder in der Gang-Szene abgestochen werde oder, weil ich mich verteidige, ins Gefängnis kommen werde. Und weil die Berliner Gefängnisse voll mit Muslimen sind, die in der Gang-Szene aktiv waren, wäre das für mich da höchst problematisch geworden.

Was hat Sie mit 16 Jahren zu einem aggressiven Straßen-Macho gemacht?

Shalicar: Nein, ich war das Gegenteil eines aggressiven Machos. Durch meine antisemitischen Straßenerfahrungen habe ich irgendwann versucht, mich zu schützen vor den Menschen in meiner Nachbarschaft. Und wenn du alleine bist unter Leuten, die dir Böses wollen, dann gilt – wie es auf Englisch heißt: "If you can’t beat them, join them." Wenn du sie nicht schlagen kannst, verbünde dich mit ihnen. So bin ich in die Gang-Szene reingerutscht.

Sie wuchsen als säkular erzogenes Kind emigrierter iranischer Juden auf. Das Judentum hat für Sie lange keine Rolle gespielt. Wodurch änderte sich das?

Shalicar: Meine Hinwendung zum Judentum bestand lediglich darin, dass ich gesagt habe: Ich bin Jude. Heute lebe ich in Israel, was vielleicht schon an sich ein Zeichen des Jüdischseins ist. Aber ich bin immer noch ein säkularer Jude, dessen jüdische Identität erst durch das Umfeld im Wedding gestärkt wurde.

Das heißt: Erst der erfahrene Antisemitismus weckte Ihr jüdisches Bewusstsein.

Shalicar: Absolut.

Wie sahen diese Erfahrungen konkret aus?

Shalicar: Das waren Monate und Jahre von Anfeindungen, die ich erleben musste. Das fing mit 13, 14 an, als in der Schule plötzlich mein bis dahin bester Freund, als er erfuhr, dass ich Jude bin, nicht mehr mit mir sprechen wollte. Und es ging bis zu angespuckt, erniedrigt, geschlagen, bedroht werden. Alles, was einem in einem kriminellen Bezirk so passieren kann. Und der Stadtteil Gesundbrunnen, in dem ich aufgewachsen bin, ist der kriminellste Bezirk Deutschlands. Da liefen Leute mit drei Waffen in der Tasche herum. Für mich bedeutete das einen tagtäglichen Überlebenskampf.


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Haben Sie auch von der deutschen Mehrheitsgesellschaft antisemitische Anfeindungen erlebt?

Shalicar: Nur unter Muslimen, weil ich auch nur unter Muslimen lebte, deren Eltern wie meine aus anderen Ländern zugezogen waren. Mit "Biodeutschen" hatte ich erst wieder zu tun, als ich zur Bundeswehr kam.

In Ihrem Buch schreiben Sie, dass Sie bei der Bundeswehr keinerlei Antisemitismus erlebten – was angesichts der Tatsache, dass dort immer wieder rechtsradikale Zwischenfälle bekanntwerden, nicht so selbstverständlich ist.

Shalicar: Ganz ehrlich: Ich war selber sehr überrascht. Ich war mental auf Anfeindungen eingestellt, hatte aber das Glück, in einer Strebertruppe zu landen, nämlich bei den Sanitätern. Das waren sehr nette Kameraden, da hatte niemand ein Problem mit mir.

Sie werfen in Ihren Büchern aber auch der deutschen Mehrheitsgesellschaft Antisemitismus vor. Was glauben Sie, woher kommen diese Ressentiments gegenüber Juden?

Shalicar: Ich glaube, dass bei sehr vielen Deutschen die Vergangenheit nicht gut verarbeitet wurde – auch drei Generationen nach der ehemaligen Tätergeneration nicht. Ich kann nachvollziehen, dass es für Kinder und Enkel von Tätern nicht so einfach ist, damit zurechtzukommen. Der Weg, der dann von vielen gewählt wird – auch von den Medien – ist, dass man immer wieder mit dem Finger auf Israel zeigt, beim jüdischen Staat permanent Fehler sucht und Täter-Opfer-Umkehr betreibt, wenn es um Israel, die Hamas oder die Hisbollah geht. Das kommt nicht nur aus rechten, sondern auch aus linken und christlichen Ecken.


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Eigentlich wird die Aufarbeitung unserer NS-Geschichte inzwischen aber doch auch vom Ausland anerkannt.

Shalicar: Tatsächlich hat Deutschland als Haupttäterland um einiges mehr bei der Aufarbeitung geleistet als andere Länder, in denen auch Verbrechen geschehen sind – zum Beispiel Polen, Kroatien oder die Ukraine. Dort wird teilweise die Vergangenheit verleugnet. Aber in Deutschland ist inzwischen auch viel Schein dabei. Man muss nur bestimmte Politiker beobachten. Da gedenkt man zwar einerseits des Holocausts und lässt dabei auch gerne mal ’ne Träne kullern. Am Tag darauf aber wird für die größten Feinde des jüdischen Volkes, das Regime im Iran, die Hisbollah oder für andere komische Gestalten ein gutes Wort eingelegt. Das gilt auch für den deutschen Außenminister, der alle zwei Wochen mal einen Tweet absetzt, dass Auschwitz sich nie wiederholen darf, andererseits sich aber dann mit Leuten des iranischen Regimes ablichten lässt, die offen sagen, dass sie die Zerstörung des israelischen Staates anstreben.

Kann man darin auch den deutschen Versuch sehen, moderierend auf eine Beilegung des Nahostkonflikts hinzuarbeiten?

Shalicar: Genau das sagen mir hochrangige Politiker, mit denen ich in Kontakt bin, immer wieder. Ich kann auch nachvollziehen, dass das – auch aufgrund der deutschen Vergangenheit – ein tiefer Wunsch ist. Aber wenn man sich wirklich mit dem iranischen Regime beschäftigt, sieht man, dass die, die dort das Wort führen – die Ajatollahs, die islamischen Revolutionsgarden – keine Menschen sind, die man an den Verhandlungstisch bekommen kann, es sei denn, man übt Druck aus. Das ist das, woran Israel seit eh und je glaubt. Ganz im Gegensatz zu Deutschland. Der israelische Premierminister hat kürzlich gesagt, die Haltung Europas und vor allem Deutschlands erinnere ihn an die Appeasement-Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg. Damals haben die Briten Hitler beschwichtigen wollen. Aber das hat nicht geklappt, denn Hitler hatte schon seinen Masterplan. Und das iranische Regime hat auch seinen Masterplan.

Heißt das, die Idee von einer friedlichen Koexistenz Israels und seiner islamisch-arabischen Nachbarn ist ein naiver Traum?

Shalicar: Nein, im Gegenteil. Ich war selber mit unserem Außenminister Israel Katz in mehreren arabischen Ländern. Und ich treffe auch in Israel arabische Delegationen. Erst vor zwei Stunden saß ich mit Journalisten unter anderem aus dem Irak und Saudi-Arabien zusammen. Und vor zwei Wochen hat sich unser Außenminister in den USA mit dem Außenminister von Bahrain getroffen. Von diesem Treffen können Sie Bilder im Netz finden. Das hätte es vor zwei, drei Jahren nicht gegeben, dass sich der Minister eines Golfstaats mit einem Minister aus Israel ablichten lässt. Die arabische Welt versteht immer mehr, dass Israel kein Feind ist und dass unser Know-how in Sachen Wirtschaft, Technologie und auch Sicherheit unbedingt gebraucht wird, weil man einem gemeinsamen Feind gegenübersteht – nämlich dem iranischen Regime.

Zurück zum Antisemitismus in Deutschland, den muslimische Zuwanderer mit hierherbringen. Was erwarten Sie im Kampf dagegen von der deutschen Gesellschaft?

Shalicar: Zunächst mal: Ja, in westdeutschen Großstädten ist muslimischer Antisemitismus ein großes Problem. In Ostdeutschland hingegen kommt er zunehmend von Neonazis. Und genauso problematisch sind Leute von links außen, die gemeinsame Sache machen mit Leuten, die einen einzigen Staat auf der Welt boykottieren wollen. Und das ist Israel. Mit muslimischem Antisemitismus bin ich aufgewachsen, deshalb kenne ich mich damit am besten aus. Da ist meine Meinung die gleiche wie beim Umgang mit dem iranischen Regime. Wischiwaschi-Haltung klappt da nicht, man muss klare Kante zeigen. Gegenüber den Ajatollahs genauso wie gegenüber muslimischen Gangs und Clans oder radikalen Moschee-Gemeinden, die nicht nur gefährlich für Juden sind, sondern auch für jeden Deutschen.

Ist die jüdische Opfer- und Verfolgungsgeschichte die identitätsstiftende Klammer des Judentums in einer Welt, die immer säkularer wird?

Shalicar: Ich glaube nicht, dass die Welt immer säkularer wird. In den 90er Jahren habe ich das auch noch gedacht. Mittlerweile bin ich der Meinung, dass die Welt immer religiöser wird. Unter Muslimen, Christen und Juden. Und die Juden sind heute nicht mehr Opfer, wie sie es mal waren. Das ist nämlich unsere Schlussfolgerung aus der NS-Zeit: Nie wieder Opfer sein. Was nicht heißt, dass man andere zum Opfer machen muss, sondern nur, dass man imstande ist, sich zu wehren. Das muss nicht mit der Waffe passieren, das kann man auch, indem man die Dinge beim Namen nennt, so wie ich es versuche.

NN-Talk

In zwei Büchern befasst sich Arye S. Shalicar mit Antisemitismus. Der Deutsch-Israeli ist beim NN-Talk zum Thema "Wie gefährlich ist der neue, alte Antisemitismus?" am 6. August, 19.30 Uhr, im Gemeindezentrum der Israelitischen Kultusgemeinde Nürnberg (Arno-Hamburger-Str.3) zu Gast. Sein Gesprächspartner ist NN-Chefredakteur Alexander Jungkunz.

Karten erhalten Sie in den Geschäftsstellen Ihrer Zeitung oder an der Abendkasse.

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