"Die Familie muss den Täter gedeckt haben"

14.9.2011, 06:50 Uhr

NZ: Was sind das für Menschen, die zu solchen Taten fähig sind?

Wolfgang Retz: Ein bestimmtes Muster lässt sich kaum erkennen. Solche außergewöhnlichen Fälle sind so selten, dass man sich kaum auf wissenschaftlich gesicherte Daten stützen kann. Deshalb kann man auch nicht sagen, dass bestimmte Risikofaktoren oder eine bestimmte Persönlichkeitsstruktur eine solche Tat wahrscheinlicher machen.

NZ: Doch zumindest scheint es sich ja um jemanden zu handeln, für den Kategorien wie Mitleid oder Mitgefühl wenig bedeuten.

Retz: Eine psychiatrische Störung ist von außen betrachtet eher unwahrscheinlich. Was zum Beispiel gegen eine pädosexuelle Störung spricht, ist die Tatsache, dass der Missbrauch bis ins Erwachsenenalter des Mädchens angedauert hat. Man muss einfach akzeptieren, dass es relativ viele Menschen gibt, die Regeln überschreiten und soziale Normen missachten. Das nennen wir dann einfach kriminell. Außerdem kommt sexueller Missbrauch von Kindern in Familien gar nicht so selten vor – viel häufiger als in einem anderen Umfeld. Das Spektakuläre an diesem Fall ist die lange Dauer.

NZ: Der Mann soll seine Tochter über Jahrzehnte hinweg missbraucht haben.

Retz: Das geht eigentlich nur, wenn innerhalb der Familie eine bestimmte Struktur besteht. Nach außen hin sind solche Familien meistens intakt, sie leben unauffällig, nach innen müssen aber Strukturen vorhanden sein, die den Täter schützen. Er musste sich der Solidarität der anderen Familienmitglieder sicher sein. Es ist ja kaum vorstellbar, dass die Schwangerschaften der Tochter nicht bemerkt worden sind. Das muss von der Familie entsprechend gedeckt worden sein. Vielleicht handelt es sich um eine schwache Mutter, die nicht in der Lage war, ihre Tochter zu schützen. Vielleicht spielte auch Gewalt eine Rolle. Die Konstellation „autoritärer Vater – schwache Mutter“ könnte dazu beigetragen haben, die Tat dauerhaft werden zu lassen.

NZ: Hat hier auch die soziale Kontrolle versagt?

Retz: Sicher, denn so markante Dinge wie eine Schwangerschaft bleiben in der Regel nicht verborgen. Wenn sich nie jemand über eine Schwangerschaft wundert, oder beim Tod der Kinder nicht nachgefragt wird, dann spricht viel dafür, dass in der Umgebung kein großes Interesse bestand, dem nachzugehen. Der Vater hat es der Umgebung zudem durch seine autoritäre Art möglicherweise schwer gemacht, die Taten aufzudecken.

NZ: Warum hat es gerade die eigene Tochter getroffen?

Retz: Es ist vorstellbar, dass für ihn hierin die einfachste Möglichkeit bestand, seine sexuellen Bedürfnisse auszuleben, ohne dass das sanktioniert wird. Solche verwobenen familiären Strukturen gewährleisten am ehesten, dass eine derartige Tat unentdeckt bleibt.

NZ: Wie ist das für die Tochter, wenn die Kinder vom eigenen Vater stammen?

Retz: Es hört sich vielleicht komisch an: Aber die Tochter muss die Beziehung zu ihrem Vater zunächst nicht als etwas Abnormes erlebt haben. Sie hat es ja gar nicht anders gekannt, sie wusste nicht, wie Sexualität normalerweise gelebt wird, dass man als Frau das Recht hat, selbst über seine Sexualität zu bestimmen. Das hat sie wahrscheinlich erst im Laufe der Zeit realisiert. Offenbar scheint aber ihre soziale Entwicklung gestört zu sein, weil sie Straftaten begangen hat und unter Bewährung stand. Jetzt muss man abwarten, welche Bedürfnisse sie hat und wo sie Hilfe benötigt.

NZ: Nicht jeder, der als Kind geschlagen wurde, schlägt später selber. Woher kommt das „Böse“ im Menschen: Ist es genetisch bedingt, oder resultiert es aus den Erfahrungen, die man macht?

Retz: Dass die Erfahrung von Gewalt in der Kindheit später eigenes Gewaltverhalten mitbedingt, ist wissenschaftlich gut gesichert. Doch wir wissen heute, dass antisoziales, kriminelles Verhalten auch durch genetische Faktoren mit verursacht wird. Das Interessante daran ist: Zwischen den genetischen und den psychosozialen Komponenten gibt es Wechselbeziehungen. Es spricht einiges dafür, dass psychosoziale Faktoren durch die genetischen Faktoren moduliert werden. Wir haben möglicherweise Gene, die uns widerstandsfähiger machen gegen psychosoziale Beeinträchtigungen in der Kindheit – und wir haben wiederum andere Gene, die das Risiko erhöhen. Das könnte erklären, dass nicht jeder, der schlechte Erfahrungen in der Kindheit gemacht hat, auch als Erwachsener gewalttätig wird.

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