Die Nerven liegen blank: In Großbritannien sind Zahnarztpraxen dicht

31.5.2020, 05:55 Uhr
Nur lebensbedrohliche Infektionen im Mundraum werden derzeit in Großbritannien noch behandelt. "Normale" Patienten müssen sich selbst helfen – und sie tun dies auch: mit Zahnzangen, Nagelfeilen, Kaugummi und Sekundenkleber!

© Markus Scholz/dpa Nur lebensbedrohliche Infektionen im Mundraum werden derzeit in Großbritannien noch behandelt. "Normale" Patienten müssen sich selbst helfen – und sie tun dies auch: mit Zahnzangen, Nagelfeilen, Kaugummi und Sekundenkleber!

Bevor es zur Sache ging, musste sich Billy Taylor erst einmal zwei Glas Whisky genehmigen. Dann hielt er einen Eisbeutel gegen die Wange, bis er den Schmerz im Kiefer nicht mehr fühlen konnte. Seit Wochen hatte er unter einem entzündeten Backenzahn gelitten, der sein Gesicht grotesk anschwellen ließ. "Jede halbe Stunde schien es größer zu werden", so Taylor, ein Mechaniker aus Axminster. "Ich sah aus wie der Elefantenmensch".

Der Zugang zu einem Zahnarzt war für ihn nicht möglich, denn wegen der Corona-Pandemie haben alle Zahnarztpraxen in Großbritannien geschlossen. Taylor blieb nichts anderes übrig, als selbst Hand anzulegen. Mit Hilfe seines elfjährigen Sohnes setzte er die Zange an und begann zu hebeln. Nach anderthalb Stunden war der Backenzahn draußen. "Der Schmerz ließ sofort nach", erzählt der 33-Jährige.

Behandlung mit Sekundenkleber und Kaugummi

Wie Taylor ergeht es derzeit vielen im Königreich. Die Leute müssen sich selber helfen. Abszesse werden mit Nadeln gestochen, herausgefallene Füllungen mit Kaugummi ersetzt. Abgebrochene Zähne schleift man mit Nagelfeilen glatt und wacklige Kronen werden mit Sekundenkleber befestigt. Die Briten haben zur Do-it-yourself-Behandlung keine Alternative, denn der örtliche Zahnarzt darf nur Antibiotika oder Schmerzmittel verschreiben, praktizieren darf er nicht. Immerhin gibt es Notfallzentren für die allerschlimmsten Fälle.


Erlanger Zahnärzte helfen sich in der Corona-Krise selbst


Als Fay Rayward aus Telford ihren Zahn selbst ziehen wollte, brach der in zwei Teile. "Dann begann der Ärger erst richtig", erzählt sie. "Der Schmerz war schlimmer als eine Entbindung." Ihr wurde schließlich eine Behandlung angeboten: die Extraktion.

Das Zähneziehen wird plötzlich zum Normalfall

Seit dem 25. März sind alle Routinebehandlungen abgesagt. Die wenigsten Patienten qualifizieren sich für einen Termin in den rund 550 Notfallzentren im Land. Dort werden nur jene empfangen, die lebensbedrohliche Infektionen oder Atembeschwerden wegen einer Gesichtsschwellung haben.

Kate Mansey, deren fünfjähriger Sohn starke Schmerzen bekam, nachdem eine Füllung herausfiel, verzweifelte, als ihr gesagt wurde, dass keine andere Behandlung außer einer Extraktion möglich sei. Aber sie könne ja versuchen, wurde ihr gesagt, die Füllung selber mit Wachs zu stopfen. "Ist das jetzt die Covid-Zahnbehandlung?", empörte sich Mansey. "Herausreißen oder es selber machen? Es ist mittelalterlich."

Fälle von Mundhöhlenkrebs könnten unentdeckt bleiben

Doch so ist es zurzeit: Die Zahnheilkunde ist wieder beim Zähneziehen angekommen. Weil Patienten nicht mehr von Dentalhygienikern behandelt werden können, befürchtet Julie Deverick, Präsidentin der "British Society of Dental Hygiene and Therapy", dass demnächst die Fälle von nicht rechtzeitig entdecktem Mundhöhlenkrebs ansteigen werden.

Eine vorsichtige Lockerung will die Regierung erst ab dem 8. Juni erlauben. Dann sollen Zahnarztpraxen allmählich wieder öffnen. In der Zwischenzeit laufen wohl mehr als 600 000 Fälle von Zahnproblemen auf. Doch zunächst werden nur die dringendsten Fälle angenommen. Und sichere Zahnbehandlung in Zeiten einer Pandemie ist langsam: Sowohl umfangreiche Schutzkleidung wie wirksame Infektionskontrolle und Desinfizierung nach jeder Sitzung sind vorgeschrieben, was in vielen Praxen nur maximal acht Termine pro Tag ermöglicht. Die Briten müssen sich noch eine Zeitlang gedulden, bevor Normalität einkehrt. Bis dahin bleibt für viele nur die Do-it-yourself-Behandlung.


Hier finden Sie täglich aktualisiert die Zahl der Corona-Infizierten in der Region. Die weltweiten Fallzahlen können Sie an dieser Stelle abrufen. Über aktuelle Entwicklungen in der Corona-Krise


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