"Die Populisten bewirtschaften Angst"

18.9.2019, 12:28 Uhr

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Herr Münkler, Ihr neues Buch, das Sie zusammen mit Ihrer Frau geschrieben haben, heißt "Abschied vom Abstieg". Klingt zunächst so, als gehe es um den Rekord-Auf- und -Absteiger 1. FC Nürnberg . . . es geht aber um Deutschland. Steht die Bundesrepublik vor dem Abstieg?

Herfried Münkler: Abstieg ist ja eher ein Begriff der politischen Linken, einer mit Blick auf soziale Schichten. Der korrespondierende Begriff auf der politischen Rechten heißt Niedergang. Momentan wird der öffentliche Diskurs durch Abstiegs- und Niedergangs-Obsessionen geprägt. Die haben wir uns angeschaut: Sind die Ängste real oder haben sie sich verselbstständigt? Denn selbst wenn man AfD-Anhänger befragt, zeigt sich: Sie betrachten ihre gegenwärtige Lage als gut. Das Land steht ja auch gut da. Es sind eher die Zukunftserwartungen, die Abstieg und Niedergang im Blick haben. Solche Ängste haben etwas Gefährliches, sie lähmen nämlich und rauben Zuversicht. Sie führen entweder zu politischer Hektik oder zu Apathie. Wir sagen dann aber: Es gibt in der Tat einen erheblichen Reformbedarf – und zwar vor allem bei der Bildung, der Demokratie und bei Europa.

Hat Deutschland in der Ära Merkel zu wenig getan für eine gute Zukunft? Ist das Land zu satt?

Münkler: Deutschland in der Ära Merkel hat natürlich von den ungeheuren Reformanstrengungen der Agenda 2010 profitiert. Frau Merkel ist nicht unbedingt der Typ, der politisch führt, sondern Politik als strukturelle Fehlervermeidung versteht. Erstaunlicherweise schaffte sie doch ein paar grundlegende Veränderungen: Etwa den Atomausstieg, der zusammen mit dem Kohleausstieg eine ungeheure Kraftanstrengung darstellt. Wenn das gelingt, kann das technologische Führerschaft bringen. Dann: die Abschaffung der Wehrpflicht. Und dann natürlich Merkels Entscheidung im September 2015, die Grenzen nicht zu schließen und damit den Balkan vor dem Zusammenbruch zu retten. Aber dafür musste sie einen hohen Preis zahlen. Die politische Kultur in Deutschland bekam eine Fülle von Rissen – der Aufstieg der AfD zum Beispiel. Nun muss man sehen, wie das Land die Integration der Migranten hinbekommt. Selbst Sachsen hat das zentrale Problem Facharbeitermangel – wir könnten diese Leute gut brauchen. Aber sie kamen ja meist nicht zu uns als Mechatroniker oder Krankenpfleger – dazu müssen wir in sie investieren. Wir haben hier eine Kraftanstrengung vor uns, die vergleichbar ist mit der Wiedervereinigung. Insofern hat die Ära Merkel zwei Gesichter – einerseits Stillstand, andererseits aber eine Fülle von Herausforderungen, die zum Teil im Stillen, zum Teil in lautstarken Kontroversen angegangen wurden.

Ist die Angst, die viele im Lande umtreibt, ein spezifisch deutsches Phänomen?

Münkler: Das wird gerne so gesehen, man spricht ja auch von der German Angst. Aber wir sehen aktuell auch British Angst; die Verwerfungen in Italien und Frankreich sind sehr viel größer als unsere. Vereinfacht kann man sagen: Wenn es einer Bevölkerung so richtig schlecht geht, dann sind die Voraussetzungen für Zuversicht gut, weil es eigentlich nur noch besser werden kann. Das ist die Situation der 1950er, 60er Jahre. In Gesellschaften, denen es wirklich gut geht, heißt es dagegen: Eigentlich kann’s uns doch nur noch schlechter gehen. Solche Gesellschaften neigen auch dazu, satt und behäbig zu werden. Es ist die Aufgabe von Politik, Angst in Furcht zu verwandeln – damit sie konkret wird und angegangen werden kann. Daran arbeiten die Parteien der Mitte. Die Populisten vor allem von rechts dagegen bewirtschaften Angst, steigern und triggern sie. Denn ihnen hilft eine verunsicherte Bevölkerung – wobei offensichtlich ist, dass sie für die anstehenden Probleme gar keine Lösungen zu bieten haben.

Alarmismus nervt Sie – die Weltuntergangsstimmung, zu der wir gerne neigen. Ist auch das typisch deutsch, dieses Absolute?

Münkler: Die Deutschen sind seit dem 19. Jahrhundert die Denker von Apokalypsen. Das mag ästhetisch und literarisch großartig sein, denken Sie an Wagner. Aber man darf das nicht zu einem politischen Ratgeber machen. Es gibt ja durchaus Gründe, wegen des Klimas besorgt zu sein. Wichtig wäre aber eine Rückabwicklung der Hysterie hin zu Handlungsfähigkeit – und dann kann man sagen: Okay, wir haben noch eine begrenzte Zeit, die muss man nutzen. Spektakuläre Aktionen wie die von Greta Thunberg können da ein Hingucker sein – aber sie verändern nichts. Auch "Fridays for Future" hat keine Antwort auf die Frage, wie die Balance zwischen ökonomischen, sozialen und ökologischen Effekten wirklich hinzubekommen ist. Nur ein Beispiel: Wie bringen wir die Windkraft-Energie aus dem Norden nach Süden – Stichwort Trassen-Streit. Und da zeigt sich dann ein Dilemma der repräsentativen Demokratie: Solche Projekte dauern sehr lange, manche haben den Eindruck: Da passiert nichts oder viel zu wenig – anders als in autoritären Staaten wie Russland oder China, wo Dinge schneller durchgezogen werden.

Herfried Münkler.

Herfried Münkler. © Foto: Alexander Jungkunz

Wie schafft man Orte des ruhigen Diskurses, wie entgiftet man das Klima – wie Sie es einfordern?

Münkler: Wir beschreiben im Buch den Zusammenhang zwischen der Entstehung der repräsentativen Demokratie und dem Buchdruck sowie dem Zeitungswesen. Da geht es um die Speicherung und Weitergabe von Wissen als Grundlage für seriös geführte Debatten. Auch das braucht Zeit – denken Sie an die mehrfachen Lesungen von Gesetzen. Das bringt aber einen Reflektivitätsgewinn durch die intensivierte Debatte. Damit sind wir gut gefahren. Wenn man sich die Komplexität der Probleme ansieht, sieht man: Das kann man nicht mit ein paar Tweets machen wie Trump und nicht mit Schaum vor dem Mund wie bei Netz-Debatten, wo losgehämmert wird ohne nachzudenken. Da plädieren wir für die eigentlich bewährten Diskussionsforen und dafür, sich auch Zeit zu lassen, um Fragen und Antworten sorgfältig zu bedenken. Talkshows verhunzen die Demokratie und das Nachdenken, weil dort nur Schlagworte produziert werden. Vernunft braucht Zeit – und in einer Zeit der Beschleunigung gibt es einen Mechanismus des Vernunfts-Verlusts.

Johnson beurlaubt das Parlament, Salvini, Trump und andere setzen auf Volkes Willen und attackieren ihre Parlamente: Wankt die repräsentative Demokratie?

Münkler: Dieser Begriff von Volk ist ein Kampfbegriff gegen die Demokratie, wie wir sie kannten. Beim "Volk" ist das Problem: Wer repräsentiert eigentlich Volkes Wille? Und wie lange ist dieser Wille kontinuierlich? Auch Referenden sind ja eine Augenblicksmessung, die aber eine höhere Dauerhaftigkeit hat als veränderbare Parlamentsbeschlüsse – siehe etwa den Brexit oder in Berlin den Beschluss durch ein Referendum, das Tempelhofer Feld nicht zu bebauen. Da hätte man 50 000 Wohnungen bauen können, ohne weiteres. Da stellt sich die Frage: Ist die parlamentarische Demokratie nicht besser geeignet, auch Fehler zu korrigieren? Zudem ist der "Volkswille" ungeheuer anfällig gegenüber russischen Hackern, twitternden amerikanischen Präsidenten oder Deutschland-Besuchen des türkischen Präsidenten. Da machen wir einen Vorschlag: Man muss verhindern, dass es zu so etwas wie einer politischen Kultur der Eckensteher kommt – derjenigen, die alles besser wissen, schimpfen, sich aber nicht beteiligen, sondern Motzgemeinschaften organisieren. Daher schlagen wir vor, auf kommunaler Ebene einfach mal per Los Menschen auszuwählen und ihnen zu sagen: Hier habt ihr ein Problem, hier habt ihr Geld – jetzt löst das mal, um so auch eine gewisse Demut der ewigen Großmäuler bei der Bearbeitung von Problemen zu erzeugen. So könnte man die Rede von "denen da oben" und "wir da unten" konterkarieren – das wäre eine Einübung in Demokratie.

Wir machen jetzt doch auch eine Talkshow-Situation: Erläutern Sie doch mal in einer Minute die Kernthesen Ihres Buches...

Münkler: Ganz wichtig: bessere Bildung. Wir dürfen nicht mehr so viele Menschen im Bildungssystem verlieren. Die Anzahl der funktionalen Analphabeten ist indiskutabel. Zweitens: Wir brauchen ein höheres Maß an politischer Urteilskraft. Drittens: intensive Bemühungen, die dafür sorgen, dass die Europäer zusammenbleiben, um eine sich dramatisch verändernde Weltordnung mitgestalten zu können. Sonst spielt Europa keine Rolle mehr.

In Europa geht Deutschland lange nicht mehr voran, was Frankreichs Präsidenten Macron ärgert. Kann Europa ohne den Motor Deutschland funktionieren?

Münkler: Nein. Denn die ökonomische Macht Deutschlands ist dafür zu groß. Aber die Deutschen müssen nicht immer vorangehen. Europa wird aber nur vorankommen, wenn die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik stärker in den Blick gerät. Und da pflegt Deutschland ja eine notorische Zurückhaltung. Daher reagieren sie auch so zögerlich, wenn Macron Vorschläge macht. Dass der Sicherheitsschirm durch die USA erhalten bleibt, ist nicht sicher. Und ich denke da weniger an klassisches Militär, sondern an die Sicherheit des Cyber-Raums. Da gibt es Defizite, die nur europäisch zu lösen sind.

Ist Ihnen selbst bange um Deutschland?

Münkler: Ich bin von meiner Mentalität her nicht zum Bangesein geneigt. Zuversicht in die eigene intellektuelle Bewältigbarkeit von Problemen ist eine Voraussetzung, um dies wirklich zu schaffen. Diejenigen, die in Pessimismus machen, die haben eigentlich schon aufgegeben.

Hat jemand, der eine Agenda aufschreibt, selbst Lust, in die Politik zu gehen?

Münkler: Dafür bin ich zu alt. Da denke ich an den Grabstein von Bertolt Brecht, auf dem nach seinem Willen stehen sollte: "Er hat Vorschläge gemacht." Diese Rolle spiele ich nach wie vor gerne.

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