Die Wissenschaft ignoriert

Die vierte Corona-Welle: Ergebnis eines vermeidbaren Versagens

15.11.2021, 06:47 Uhr
Die Inzidenz steigt, die Krankenhäuser sind zusehends überlastet. Auch in der Region gibt es so gut wie keine Intensivbetten mehr. 

© Julian Stratenschulte, dpa Die Inzidenz steigt, die Krankenhäuser sind zusehends überlastet. Auch in der Region gibt es so gut wie keine Intensivbetten mehr. 

Eigentlich möchte man gar nicht mehr viele Worte verlieren über das, was sich derzeit erneut in der Bundesrepublik abspielt. Denn es ist ja so, wie Christian Drosten, jener Virologe, der sich seit März 2020 mit seinen fachlich präzisen Einschätzungen zur Corona-Lage verdient macht, es kürzlich formuliert hat: Die Wissenschaft hat geliefert. Die Fakten über das Virus, seine Infektiosität, seine Verbreitungswege, seine Gefährlichkeit, liegen lange auf dem Tisch. Allerdings offenbaren weite Teile der politischen Entscheider weiterhin ein eklatantes Unvermögen, wissenschaftliche Erkenntnisse in praktische Politik zu übersetzen.

Zum Beispiel solche, wie sie das Robert-Koch-Institut schon am 8.Juli veröffentlicht hat. In einem Bulletin haben die Wissenschaftler modelliert, welche Inzidenzen sich im Winterhalbjahr in Abhängigkeit von der bis dahin erreichten Impfquote entwickeln werden. Und, siehe da, für eine Quote, die in etwa dem derzeitigen Immunisierungsstand entspricht, zeigt das Szenario eine fulminante Winterwelle mit 7-Tages-Inzidenzen von bis zu 400 im November und Dezember. Fachleute haben diese Gefahr immer wieder betont.

Ebenso wie die Tatsache, dass der Infektionsschutz der Impfung allmählich nachlässt, Geimpfte sich also wieder anstecken können – auch wenn sie nur sehr selten schwer erkranken. An seriösen Informationen und mahnenden Stimmen hat es nie gemangelt. Auch im Sommer 2021 nicht. Und trotzdem rutscht dieses Land wieder in eine Situation, in der der Kollaps des Gesundheitssystems ein erschreckend realistisches Szenario ist.

"Freiheit" statt Verantwortung

Weil ein bemerkenswert großer Teil der Bevölkerung daran scheitert, eine ebenso simple wie eindeutige Risikoabwägung vorzunehmen, und sich impfen zu lassen. Und weil viele Mandatsträger auch nach mehr als eineinhalb Jahren nicht verstanden haben, nach welchen immer gleichen Mechanismen diese Pandemie funktioniert. Dass von der AfD kein konstruktiver Beitrag zu erwarten ist, ist offensichtlich.

Doch auch FDP und Freie Wähler tragen viel zu oft mit realitätsverleugnender Freiheitsprosa mehr zur Verschärfung des Problems als zu seiner Lösung bei. Dass es Union, SPD, Grünen und Linken ebenfalls nicht gelungen ist, eine kohärente oder gar vorausschauende Corona-Politik zu entwerfen, macht es nicht besser. Diese Pandemie überfordert unser Land – politisch, organisatorisch und intellektuell – in einem beunruhigenden Ausmaß.

Viel, sehr viel, wird aufzuarbeiten sein, wenn das Virus seinen Schrecken irgendwann verloren haben wird. Und bis dahin? Müssen wir doch weiter über Pandemiebekämpfung sprechen. Über 2G, Impflicht für bestimmte Berufsgruppen, eine massive Kampagne für Booster - und Erstimpfungen, und ja, auch Kontaktbeschränkungen. Anders wird es kaum gehen. Das ist frustrierend. Und wäre vermeidbar gewesen.

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