Direktor des Klinikums Fürth schlägt Alarm: "So etwas habe ich noch nie erlebt"

14.12.2020, 14:58 Uhr

Die Intensivstation im Klinikum Fürth ist bereits mit Covid-Patienten ausgelastet. © Foto: Hans-Joachim Winckler

Herr Wagner, Sie haben sich mit einem direkten Appell an die Bundeskanzlerin und die Ministerpräsidenten gewandt. Das ist mehr als außergewöhnlich. Was hat Sie zu diesem Schritt gebracht?

Manfred Wagner: Die Krankenhäuser sind jetzt schon massiv belastet. Doch die Zahlen werden voraussichtlich noch steigen, weil die Infizierten ja erst mit einer ein- bis zweiwöchigen Verspätung in den Krankenhäusern ankommen. Aktuell schaffen wir es noch mit sehr viel Engagement aller Beteiligten diesen Zustand einigermaßen kontrolliert zu halten. Steigen die Zahlen allerdings weiter, dann könnte unser Gesundheitssystem in die Knie gehen.

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Sie sind im ständigen Austausch mit den Kliniken in Erlangen und Nürnberg. Ist die Situation dort ähnlich?

Wagner: Seit einer Woche sind wir dabei, Intensivpatienten aus dem Großraum heraus zu verlegen, um unseren Intensivstationen wieder Luft für neue Patienten zu verschaffen. Das ist ein Alarmsignal. So etwas habe ich in meiner beruflichen Karriere bislang nie erlebt. Ein Beispiel, um zu verdeutlichen, was ich meine: Alleine heute Nacht war ich bis nach ein Uhr im permanenten Austausch mit den ärztlichen Leitern Krankenhauskoordination, damit wir zwei Intensivpatienten verlegen und unsere Station damit entlasten können. Das ist ein immenser Organisationsaufwand.

Manfred Wagner (51) wuchs in Hilpoltstein auf, machte dort sein Abitur und studierte dann in Erlangen Medizin. Anschließend ließ er sich im Klinikum Fürth zum Facharzt für Innere Medizin weiterbilden. 15 Jahre lang leitete er dort die internistische Intensivstation. 2008 wurde er medizinischer Direktor des Klinikums Fürth. © Hans-Joachim Winckler

Das heißt auch die Krankenhäuser in Erlangen und Nürnberg sind voll ausgelastet?

Wagner: Es sieht überall gleich aus, alle Krankenhäuser sind am Limit, deswegen gilt mein Appell auch nicht nur für Fürth, sondern für den ganzen Großraum. Tatsächlich schätze ich die Lage in den Nürnberger Kliniken sogar noch ein Stück dramatischer ein, als bei uns. Erst am Freitag wurde dort ja der Pandemie-Alarmfall für das Klinikum Nürnberg ausgelöst. Wir selbst mussten bis vor wenigen Tagen noch keine Patienten verlegen, jetzt ist das anders. Ich befürchte sogar, dass dieser Zustand bald für ganz Bayern gilt. Auch das Klinikum Augsburg hat den Corona-Alarmzustand ausgerufen. Andere Regionen sind vielleicht noch nicht ganz so belastet, wie unsere, aber auch dort steigen die Zahlen stetig an.



Vor einer Woche haben Sie auch an die Bürger appelliert, warum gehen Sie jetzt sogar noch weiter?

Wagner: Wir hatten auf YouTube, Facebook und Instagram eine Aktion unter dem Hashtag #forabetterchrismas (deutsch: Für ein besseres Weihnachten) mit dem Slogan: Tragt Masken, haltet Abstand, vermeidet Kontakte, damit euch und uns nicht die Luft ausgeht. Wir merken aber, dass all die Maßnahmen, die bislang unternommen wurden, nicht reichen. Die Zahlen steigen weiter. Andere Länder zeigen uns, dass es anders geht: Frankreich oder Belgien hatten Ende November viel höhere Zahlen als wir, konnten die aber durch einen harten Lockdown senken.

Jetzt ziehen wir ab Mittwoch nach. Aus medizinischer Sicht wäre jeder Tag früher wünschenswert gewesen. Aber ich verstehe auch die Politik, die noch andere Aspekte berücksichtigen muss. Deshalb ist jetzt auch die Eigenverantwortung eines Jeden gefordert.

Für Weihnachten selbst sind die Regelungen weiterhin gelockert. Halten Sie das für falsch?

Wagner: Wenn ich ehrlich bin, dann ja. Das Virus wird sich nicht an Weihnachten halten. Und mit dieser Meinung bin ich auch im Einklang mit vielen deutschen Ärztevertretern, beispielsweise dem Chef der Charité oder dem Präsidenten der DIVI (Dt. interdisziplinäre Vereinigung für Intensivmedizin). Also aus ärztlicher Sicht muss man klar empfehlen, die Maßnahmen nicht zu lockern. Natürlich ist mir bewusst, dass das für die Menschen nicht einfach ist und diese Forderung fällt uns deswegen schwer, aber die Situation ist ernst.

Wie ist die Stimmung bei Ihren Mitarbeitern?

Wagner: Ich bin immer wieder überrascht und auch stolz darauf, mit welch hoher Einsatzbereitschaft unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Moment arbeiten. Das fordert von ihnen auch eine hohe Flexibilität. Um es deutlicher zu machen: Die Situation verändert sich so schnell, dass wir teilweise nur stundenweise planen können und Mitarbeiter die Stationen wechseln müssen. Trotzdem ziehen alle mit und diese Leistung muss man hoch anerkennen. Allerdings kommt auch von unseren Mitarbeitern das Signal: Steigen die Zahlen weiter, werden wir es irgendwann nicht mehr schaffen.



Machen wir das doch konkret: Was wäre das schlimmste Szenario?

Wagner: Da gibt es zwei Möglichkeiten: Wir könnten zum einen noch mehr Behandlungen aufschieben. Das hieße dann aber, dass ich einem Tumorpatienten, der mit großer Angst auf seine Operation wartet, sagen muss: Wir können dich nicht operieren. Das tun wir sogar jetzt schon, allerdings meist nur mit einer Verschiebung um wenige Tage.

Die zweite Möglichkeit wäre, dass wir den Betreuungsschlüssel noch stärker verändern. Das heißt, unser Personal versorgt noch mehr Patienten. Eine Intensivschwester versorgt dann nicht mehr zwei oder drei Intensivpatienten, sondern vier. Daten zeigen allerdings, dass dadurch die Sterblichkeit ansteigt und auch für die Mitarbeiter ist diese Arbeit dann nicht nur körperlich, sondern auch mental sehr belastend. Beide Sachen wären also schlecht, aber andere Möglichkeiten haben wir nicht.

Sie erleben gerade täglich Ausnahmesituationen. Ärgern Sie sich, wenn Sie Menschen sehen, die unbekümmert ohne Abstand und Maske zusammenstehen?

Ich gehe eigentlich immer davon aus, dass jeder nach bestem Wissen und Gewissen handelt. Deswegen mache ich auch diese Aufrufe, weil ich glaube, dass vielen gar nicht bewusst ist, was in den Krankenhäusern los ist. Und manche Menschen denken sogar durch diese ganzen kruden Querdenker-Informationen tatsächlich, alles sei nur erfunden. Deswegen versuche ich aufzuklären und die Menschen zu überzeugen.

Wie stehen Sie zu den Beschlüssen vom Sonntag?

Wie schon gesagt, rein medizinisch wäre jeder Tag vor Mittwoch wünschenswert gewesen. Aber ich bin kein Politiker und aus deren Sicht gilt es auch andere Belange zu berücksichtigen. Für mich ist aber nicht nur eine Frage der Politik, sondern eine Frage jedes Einzelnen. Wir wünschen uns alle immer mehr Selbstverantwortung und weniger Bevormundung. Jetzt ist es an der Zeit diese Selbstverantwortung zu zeigen. D.h. am Montag und Dienstag nicht in die Städte rennen um noch das letzte Weihnachtsgeschenk zu kaufen oder in den Baumarkt. Wir alle haben es jetzt in der Hand, diese Welle zu brechen.

Wenn wir diese Selbstverantwortung nicht zeigen, werden der Montag und Dienstag zu einem Booster für die Infektionszahlen und mit einer Woche Verzögerung eine riesige Belastung für die Krankenhäuser.



Neben der Kontaktreduktion hat der Bürgermeister von Fürth die Menschen sogar dazu aufgerufen, in den Krankenhäusern zu helfen. Was halten Sie von der Idee?

Wagner: Der Vorschlag ist sehr gut. Denn in der ersten Welle hatten wir bis zu 70 Medizinstudenten, die auf der Intensivstation unser Personal unterstützt haben. Eine Maßnahme wäre deswegen, den Vorlesungsbetrieb bei den Medizinstudenten zu unterbrechen und sie zu bitten, in den Kliniken auszuhelfen. Aber auch für Nicht-Mediziner gibt es aktuell die Möglichkeit, uns zu unterstützen. Es würde uns helfen.