Eine einsame Insel in einem einsamen See

3.8.2018, 08:00 Uhr
Eine einsame Insel in einem einsamen See

© privat

Freibad, barfuß kicken, mit dem Radl zum See, Kirschen klauen beim Nachbarn. Der Geruch nach gemähtem Rasen, trocknendem Chlorwasser, Pommes aus der Papiertüte und dem Kaugummistil eines Bum Bum.

So rochen die Sommerferien in den frühen 90er Jahren. Wenn man sie zu Hause verbrachte. Wir verbrachten sie selten zu Hause. Die Ferienfreiheit des Kindes findet in der Urlaubswahl der Eltern ihre natürlichen Grenzen. Meine beiden Eltern waren Lehrer. Das bedeutete nicht nur, dass sie den härtesten Job der Welt hatten, sondern auch, dass sie jeden August zeitgleich mit ihren Kindern sechs Wochen frei hatten. Pardon, sie hatten natürlich nicht frei, sie hatten nur "unterrichtsfreie Zeit".

Im Wohnmobil unterwegs

Und die verbrachten unsere Eltern mit großer Begeisterung in Finnland. Über rund eineinhalb Jahrzehnte fuhren wir im Schnitt jedes zweite Jahr in den hohen Norden. Eine gute Woche im Wohnmobil hin, zwei Wochen in einem Blockhaus am See, eine knappe Woche im Wohnmobil zurück. Während sich meine Freunde von der Sonne des Südens die Haut schälen ließen, fuhren wir auf eine einsame Insel in einem einsamen See in einem einsamen Wald in einem einsamen Land.

Dort nahmen sich meine Eltern vor, drei bis vier Regalmeter Bücher zu lesen, Pilze zu pflücken, in die Sauna zu gehen, abends ein Brettspiel zu spielen und ansonsten ihre Ruhe zu haben. Auf dieser Insel fehlte nahezu alles, was man heute als Voraussetzung für einen Familienurlaub definiert. Freizeitmöglichkeiten, andere Kinder, andere Menschen, Playstation, Fernseher, Wasser in badetauglicher Temperatur.

Unser Haus auf der Insel hatte nicht mal Strom! Für meine Eltern war das ein Buchungskriterium. Irgendwie ging es wohl um so eine Art Zivilisationsabkehr. Der Kühlschrank war gasbetrieben. Wurde es draußen dunkel, zündete man drinnen Öllampen an. Der Schlauch für das Frischwasser führte in den gleichen See, in den wir abends nach der Sauna schwer verschwitzt hineinsprangen. Die Klo-Situation war im Wortsinne atemberaubend: ein finnisches Plumpsklo mit "Sägespan-Spülung". Die kleine Hütte drumherum wandert über die Jahre hinweg über die Insel. War die Grube voll, rückten sie die Besitzer der Insel ein paar Meter weiter.

Ein Umstand, der mich damals ins Grübeln brachte, ob möglicherweise die ganze Insel ein einziger großer ehemaliger Haufen . . .

Das Verblüffende an unseren Finland-Aufenthalten war, dass sie trotz völliger Abwesenheit von Ablenkung schön waren. Auch für uns Kinder. Wir hätten in diesen Jahren nirgends anders hingewollt. In der Not frisst der Teufel eben nicht nur Fliegen, es spielt auch der ältere Bruder mit seiner jüngeren Schwester.

Wir bauten quadratmetergroße Playmobil-Szenarien in die Felslandschaft am Ufer. Wir erkundeten mit dem Ruderboot den See, legten an einsamen Inseln an, kletterten Felsvorsprünge hinauf, kochten Suppen aus Beeren, die wir nicht kannten und trotzdem aßen, verliefen uns im Wald. All das still beschienen von der Zuversicht unserer Eltern, dass schon alles gut gehen werde.

Diese Urlaube waren eine Mischung aus Astrid-Lindgren-Idyll, Karl-May-Fantasien und Tom-Sawyer-Romantik. Und weil ich in einem Sommer bei Huck Finn die Sache mit dem Floß gelesen hatte, wollten wir das auch ausprobieren. Also schnappten wir uns das Beil aus dem Schuppen und pullten ans Festland. Dort hieben wir zwei Tage lang mit der Axt auf Birken ein. Wir hörten erst auf, nachdem wir einige, nicht allzu junge Bäume erfolgreich gefällt hatten, unsere Hände voller Schwielen waren und die Axt entzweigebrochen war.

Als wir das Missgeschick unseren Eltern beichteten – in der Hoffnung, eine neue Axt zu bekommen –, stiegen sie nur langsam aus ihren Büchern empor, nickten sacht und murmelten. "Ach das waren die Schläge, die man über den See gehört hat." Dann gab es milden Tadel, dass man nicht einfach fremde Bäume fällen dürfe. Anschließend baute unser Vater mit uns ein Floß aus Treibholz, das bei seiner Jungfernfahrt sofort auf den Grund des Sees sank.

Nicht wiederholbar

Eine einsame Insel in einem einsamen See

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Was mir von Finnland geblieben ist? Der Geschmack der Pflaumenmarmelade Lumu, das grüne Licht eines Sommertags im Birkenwald, die überwältigende Stille des Abends über dem See und die unfassbare Angst, die man auf einem Plumpsklo im Wald haben kann, wenn man meint, Stephen Kings "Es" im Urlaub auf einer einsamen Insel lesen zu müssen.

Jahre später war ich wieder in Finnland. Mit Freunden und meiner jetzigen Frau. Es war schön, ein netter Urlaub, aber es war das letzte Mal. Manche Dinge sind vorbei, nicht zum Nachmachen gedacht. Wir fahren jetzt viel in den Süden, haben unsere eigenen Wunderlichkeiten. Vielleicht schreiben meine Kinder irgendwann mal einen milden Artikel darüber. Das wäre schön und vielleicht mehr, als man erwarten kann.

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