Erfolgsautor von Schirach setzt auf Grundrechte 2.0

10.4.2021, 15:03 Uhr
Ideen mit Sprengkraft: Ferdinand von Schirach will neue europäische Grundrechte.

© imago images/Tinkeres Ideen mit Sprengkraft: Ferdinand von Schirach will neue europäische Grundrechte.

Es ist ein ungewöhnlich optimistischer, manche werden sagen: naiver Ansatz. Ein Experiment, ein Wagnis: Ferdinand von Schirach, aktuell wohl der Erfolgsautor in Deutschland, schrieb nun mal etwas anderes als Kurzgeschichten, Kriminalromane oder Bühnenstücke, an deren Ende das Publikum über moralische Extremsituationen entscheiden soll – darf man, wie in "Terror", ein Flugzeug abschießen, dass Attentäter in ein Stadion abstürzen lassen wollen? Soll es, wie in "Gott", Sterbehilfe geben oder nicht?

Daraus wurden auch Fernsehspiele, damit wurde von Schirach, der selbst Jurist ist und Anwalt, prominent. Eine Art moralisch-juristische Instanz der Nation, mit Gewicht. Und mit Stil.

Ein kleines Bändchen mit 32 Seiten

Am 13. April kommt nun sein vom Umfang her kleinstes, von der Wirkung vielleicht aber folgenreichstes Werk auf den Markt: "Jeder Mensch" heißt das Bändchen im Reclam-Format, das man mit seinen 32 Seiten sehr rasch durchgelesen hat (Luchterhand Verlag, 5 Euro).

Der 56-Jährige unternimmt darin einen spannenden Versuch: Er startet eine Initiative, eine Petition – für eine Erweiterung der europäischen Grundrechte um sechs neue Artikel. Es ist eine Art "Update", eine Anpassung der Grundrechte an globalisierte und digitale Zeiten.

Mühsam auf den Weg gebracht

Seit 2009 sind die europäischen Grundrechte rechtskräftig, es war ein langer Weg. Von Schirach skizziert ihn knapp: Im Jahr 2000 erarbeitete ein Konvent eine "Charta der Grundrechte der Europäischen Union", als Teil einer EU-Verfassung. Weil die aber bei Referenden in Frankreich und den Niederlanden 2004 abgelehnt wurde, kam ein Verweis auf die Charta erst 2009 in den Vertrag von Lissabon.


Kommentar: Politik kann handeln und umsteuern - wenn sie es nur will


Von Schirach lobt sie als brillanten Kompromiss, benennt aber auch ihre Schwächen: Nur zwölf Prozent der EU-Bürger können mit dem Begriff überhaupt etwas anfangen, Verletzungen der Charta können vor EU-Gerichten gar nicht eingeklagt werden, in Polen gilt sie gar nicht. Und: Sie habe "nicht die Kraft der Erklärungen von 1776 und 1789", schreibt der Autor.

Große Vorbilder: 1776 und 1789

Das nämlich sind seine großen Vorbilder: die amerikanische Unabhängigkeitserklärung von 1776 und die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte nach der Französischen Revolution 1789.
Von "selbstverständlichen Wahrheiten" schrieben die Väter der US-Erklärung. Etwa, "dass alle Menschen gleich geschaffen sind; dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind; dass dazu Leben, Freiheit und das Streben nach Glück gehört" – so steht es da.

Verfassungstexte als Utopie mit Zielen für die Zukunft

Das ist heute noch nicht wirklich Realität, das war es 1776 noch viel weniger. Führende Politiker der jungen Demokratie besaßen selbst Sklaven – unvereinbar mit dem Geist der Verfassung. Die formulierte, ähnlich wie die französische Erklärung, also "eine Utopie", so von Schirach: "Sie zeigten die Gesellschaft nicht, wie sie war, sondern wie sie sein sollte". Und genau so etwas hat der Autor nun auch vor: Grundrechte schaffen, die aktuell längst nicht erreichbar scheinen.
Diese Artikel schlägt er vor:
"Artikel 1 - Umwelt
Jeder Mensch hat das Recht, in einer gesunden und geschützten Umwelt zu leben.
Artikel 2 - Digitale Selbstbestimmung
Jeder Mensch hat das Recht auf digitale Selbstbestimmung. Die Ausforschung oder Manipulation von Menschen ist verboten.
Artikel 3 - Künstliche Intelligenz
Jeder Mensch hat das Recht, dass ihn belastende Algorithmen transparent, überprüfbar und fair sind. Wesentliche Entscheidungen muss ein Mensch treffen.
Artikel 4 - Wahrheit
Jeder Mensch hat das Recht, dass Äußerungen von Amtsträgern der Wahrheit entsprechen.
Artikel 5 - Globalisierung
Jeder Mensch hat das Recht, dass ihm nur solche Waren und Dienstleistungen angeboten werden, die unter Wahrung der universellen Menschenrechte hergestellt und erbracht werden.
Artikel 6 - Grundrechtsklage
Jeder Mensch kann wegen systematischer Verletzungen dieser Charta Grundrechtsklage vor den Europäischen Gerichten erheben."

Kein langer Text. Aber einer mit jeder Menge politischem Sprengstoff, das weiß (und will) von Schirach. Er sieht in seinem Vorschlag eine Antwort auf neue Herausforderungen – Klimawandel, künstliche Intelligenz, die Macht der Algorithmen (und der Digitalkonzerne), Ausbeutung als Folge der Globalisierung.

Was wird aus den Billig-Klamotten?

Wenn ein Mensch ein Recht hat auf Waren, die "unter Wahrung der universellen Menschenrechte hergestellt" werden – was wird dann aus all den Fabriken in Bangladesh und anderswo, in denen Frauen für Hungerlöhne unsere Zwei-Euro-T-Shirts fertigen?

Was wird aus den Kobaltminen im Kongo, wo Kinder unter Lebensgefahr den Rohstoff fördern, ohne den unsere Smartphones nicht funktionieren würden?

Was sagen Facebook, Amazon oder Google zum Recht auf digitale Selbstbestimmung? Was wird aus ihrem Geschäftsmodell, dass aus eben jener "Ausforschung oder Manipulation von Menschen" beruht, die von Schirach verbieten will?

Massiver Widerstand zu erwarten

"Juristischer Streit darüber, welche Wirkungen die neuen Rechte haben werden, ist notwendig und richtig", schreibt er selbst. Das dürfte gelinde ausgedrückt sein angesichts des erwartbaren, ganz massiven Widerstands etwa der Internet-Riesen.

Die will von Schirach mit ihren eigenen Mitteln schlagen oder wenigstens angreifen: digital. Denn der Vorstoß soll mit einer Online-Petition auf den Weg gebracht werden. "Die Bastille kann heute im Internet gestürmt werden", so von Schirach. Er hat schon jetzt viele prominente Unterstütze, dazu gehören der Digital-Kolumnist Sascha Lobo, der Rechtswissenschaftler Christoph Möllers oder die Vizepräsidentin des EU-Parlaments, die Sozialdemokratin Katarina Barley.

"Nichts hat eine solche Kraft wie der gemeinsame Wille der Bürgerinnen und Bürger", schreibt von Schirach. Auf der Website www.jeder-mensch.eu kann jeder EU-Bürger für die neuen Grundrechte stimmen, damit sie die Hürden nehmen können, an deren Ende ein europäischer Verfassungskongress stehen soll.

"Es wird also ein langer, komplizierter und teurer Weg", schreibt er. "Aber Sie werden den nachfolgenden Generationen etwas Glückliches, etwas Strahlendes hinterlassen", endet von Schirach mit viel Hoffnung und viel Pathos.

Die Abstimmung läuft ab 13. April auf der Seite www.jeder-mensch.eu

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