Ministerpräsidenten vor schwieriger Entscheidung

Erst geächtet, dann ausgeschlossen? Unser Umgang mit Ungeimpften ist gefährlich

10.8.2021, 12:54 Uhr

Wer sich nicht impfen lässt, muss sich häufig rechtfertigen - vor Familie, Freunden und Arbeitskollegen. © Arne Dedert

Manchmal kann es lohnend sein, eine Sache mit etwas Distanz zu betrachten - selbst wenn die so gewonnenen Erkenntnisse einen erschrecken lassen. Erschrecken muss jedenfalls, wer in diesen Tagen eine Perspektive aus der Zeit vor Corona einnimmt - und sich dann überlegt, was im Deutschland des Jahres 2021 allen Ernstes verhandelt wird: nämlich eine Gruppe von Millionen Menschen auszuschließen von all dem, was vielleicht nicht überlebensnotwendig sein mag, ein Leben aber doch lebenswert macht: von Konzerten, Festivals, Bars, Kinos und Cafés.

Was bei der Ministerpräsidentenkonferenz an diesem Dienstag verhandelt wird, berührt die Grundpfeiler unseres Zusammenlebens, das in einer Demokratie nur ein Zusammenleben von Menschen mit gleichen Rechten sein kann. Die Pandemie hat diese Selbstverständlichkeit aus den Angeln gehoben: Grundrechte, der Idee nach eigentlich unantastbar, sind außer Kraft gesetzt. Und ändern soll sich das nur für all jene, die sich impfen lassen - jedenfalls nach dem Willen beunruhigend vieler Politiker und Bürger.

Ungeimpften pauschal Egoismus vorzuwerfen, ist unanständig

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Deren Argumentation steht auf wackeligen Beinen: Die Impfung ist demnach ein solidarischer Dienst an der Gesellschaft; wer sich diesem verweigert, der stelle eine Gesundheitsgefahr für seine Mitmenschen dar - und dürfe folglich ausgeschlossen werden. Dabei ist längst erwiesen, dass eine Impfung eine Ansteckung und damit die Weitergabe des Virus nicht ausschließt. Jüngste Erkenntnisse der britischen Gesundheitsbehörde deuten gar darauf hin, dass Geimpfte womöglich genauso ansteckend sind wie Ungeimpfte.

All das spricht für eine differenzierte Debatte. Die Realität ist eine andere: Der gesellschaftliche Druck auf all jene, die nicht geimpft sind, wird erhöht, der Rechtfertigungsdruck gegenüber Familie, Freunden und Kollegen wächst. Dabei haben viele lange und hart mit sich gerungen, bis sie eine Entscheidung gegen eine Impfung getroffen haben. Ihnen pauschal Egoismus vorzuwerfen, ist deshalb unanständig.

Ob auf die gesellschaftliche Ächtung der Ausschluss aus dem öffentlichen Leben folgt, ist die zentrale Frage der Ministerpräsidentenkonferenz. Eine Frage, die in einer Republik eigentlich nur eine Antwort haben kann: Auch Menschen, die nicht geimpft sind, müssen Zugang haben zu Gastronomie und Konzerten. Ihnen einen negativen Test abzuverlangen, mag in Pandemie-Zeiten vertretbar sein - sofern die Kosten für einen solchen Test in einem Verhältnis stehen zu der Veranstaltung, deren Zugang sie ermöglichen sollen. Ein Ausschluss aus dem öffentlichen Leben ist es dagegen nicht.

Es mag für manche von der Angst erfasste Mitmenschen wie ein Affront erscheinen, wenn sich Mitbürger nicht gegen Corona impfen lassen. Eine Gesellschaft wird solche individuellen Entscheidungen aber aushalten müssen - jedenfalls, wenn sie weiter für sich in Anspruch nehmen will, eine freie Gesellschaft zu sein.