EU-Präsidentschaft und Steuersenkung: Merkels doppeltes Experiment

1.7.2020, 09:40 Uhr
Die Deutschland- und die Europaflagge wehen am Morgen vor dem Reichstagsgebäude im Wind. Deutschland übernimmt ab dem 1. Juli 2020 für ein halbes Jahr die EU-Ratspräsidentschaft. 

© Kay Nietfeld, dpa Die Deutschland- und die Europaflagge wehen am Morgen vor dem Reichstagsgebäude im Wind. Deutschland übernimmt ab dem 1. Juli 2020 für ein halbes Jahr die EU-Ratspräsidentschaft. 

Die erste Hälfte dieses vermaledeiten Jahres ist vorbei, die zweite startet mit einem doppelten Experiment: Ab heute übernimmt Deutschland die EU-Ratspräsidentschaft und hat ausnahmsweise mal ambitionierte Pläne. Ab heute sinkt mit der Mehrwertsteuer erstmals die wichtigste Einnahmequelle des Staates.

Beide Vorhaben sind mit Angela Merkel verbunden, die gegen Ende ihrer Kanzlerschaft offenbar noch einmal zeigen will, dass mit ihr zu rechnen ist. Bei ihrem Projekt eines europäischen Wiederaufbaufonds, das sie am Montag mit Frankreichs Präsident Macron noch einmal erläuterte, war das eine echte Überraschung. Erstmals sprang Merkel über ihren Schatten – und stimmte dem zu, was zuletzt auch die meisten konservativen Ökonomen befürworteten: direkten Hilfen an die schwächsten EU-Partner, die von der Corona-Krise besonders gebeutelt wurden. Nicht nur zurückzuzahlende Kredite also, sondern erstmals auch Zuschüsse sollen da fließen – das kann der Weg hin zur lange auch von Merkel strikt abgelehnten "Transferunion" sein.


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Dagegen richten sich die "sparsamen Vier" – Österreich, Schweden, Dänemark und die Niederlande. Sie befürchten, eine Transferunion werde etwas ähnliches wie der innerdeutsche Finanzausgleich auf EU-Ebene. Für die nach wie vor vergleichsweise reiche Bundesrepublik ein Draufzahlgeschäft. Zunächst einmal. Wie aber soll die deutsche, stark exportabhängige Wirtschaft wieder in die Spur kommen, wenn wichtige Importländer innerhalb der EU dauerhaft schwächeln? Wenn von dort keine Kauf-Impulse kommen? Da sind Hilfen sinnvoll, weil sie jene Nachfrage stimulieren, die Deutschland mit aller Macht ankurbeln will.

Auch mit der Senkung der Mehrwertsteuer. Stürmen die Deutschen ab heute Discounter, Baumärkte und Autohäuser? Es sieht bisher nicht danach aus. Die Corona-Krise hat aktuell mindestens eine Art Konsum-Vorsicht erzeugt. Ob daraus Konsum-Verzicht oder eine andere, nachhaltigerer Art des Konsums wird, muss sich erst noch zeigen: Ist die Zeit des "Immer mehr" vorbei? Setzen manche auf weniger und bessere, langlebigere Produkte? Eine noch offene Frage.

Grüneres Wirtschaften als Chance

Die Steuersenkung ist da ein Experiment, die Ratspräsidentschaft das zweite. Auch da geht es zum einen um grüneres Wirtschaften – mit Ursula von der Leyens "Green Deal". Dieser ökologische Umbau bietet Job-Chancen – und die braucht Europa in der Krise. Und es braucht vor allem ein starkes Überlebens-Signal: Die EU ist längst kein starkes Bündnis mehr. Die Initiative von Merkel und Macron kann da eine Chance sein, der Union neues Leben und ein Stück Stärke zu verschaffen, was dringlich wäre.

Wie Merkels Kanzlerschaft zu Ende gehen wird? Nach diesem Halbjahr wissen wir mehr. Fest steht: Sie lässt sich auf Wagnisse ein. Durchaus neu für sie.

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