Fall Solingen: Medien müssen Privatsphäre respektieren

10.9.2020, 10:03 Uhr
Solingen: Tim Kurzbach (2.v.l, SPD), Oberbürgermeister von Solingen spricht am Tatort mit Medienvertretern. Eine 27-jährige Mutter soll in Solingen fünf Kinder umgebracht haben. Das jüngste war erst anderthalb. Nur der älteste Bruder (11) lebt noch.

© Oliver Berg/dpa Solingen: Tim Kurzbach (2.v.l, SPD), Oberbürgermeister von Solingen spricht am Tatort mit Medienvertretern. Eine 27-jährige Mutter soll in Solingen fünf Kinder umgebracht haben. Das jüngste war erst anderthalb. Nur der älteste Bruder (11) lebt noch.

Wenn eine Mutter fünf ihrer sechs Kinder umgebracht haben soll (es gibt bislang kein Geständnis), dann handelt es sich gewiss um ein Ereignis, das eine mediale Berichterstattung rechtfertigt. Auch wenn es sich um eine Familienträgodie handelt, besteht öffentliches Interesse. Eine Rechtfertigung, in die Privatsphäre von Menschen einzudringen, liefert allerdings selbst der tragische Tod dieser fünf Kinder nicht.

So sieht das zumindest die Redaktion dieser Zeitung. Wie fast alle anderen Medien in diesem Land respektieren wir die Grenze des Privaten. Weil wir Menschen im Zweifelsfall schützen, statt sie bloß zu stellen. Darauf sind wir nicht stolz, sondern erachten dies als Selbstverständlichkeit, als Teil des Handwerks sozusagen. Unseren Volontären vermitteln wir in den ersten Wochen ihrer Ausbildung diesen Wertekanon.

In den Redaktionen der Bild-Zeitung und des TV-Senders RTL gibt es offenbar auch andere Lehrmeister, mindestens gelten in den dortigen Chefredaktionen andere ethische Maßstäbe. Wie sonst wäre es zu erklären, dass völlig ungeniert Handy-Nachrichten des Jungen, der als einziges Kind das Solinger Drama überlebt hat, veröffentlicht wurden. Nach dem Tod seiner fünf Geschwister schrieb der Elfjährige an einen Freund — hinter der Bezahlschranke konnte der interessierte User Details lesen.

Natürlich ruderte die Bild-Chefredaktion nach harscher Kritik ein Stück weit zurück, natürlich wurden die zitierten Passagen aus dem Netz entfernt. Und doch bleibt das Vorgehen durchsichtig: Effekthascherei um jeden Preis - zynischer geht es kaum. Mit seriösem Journalismus hat ein solches Vorgehen nichts zu tun. Etwaige Konsequenzen muss das Boulevardblatt nicht fürchten. Der Presserat, das freiwillige Selbstkontrollorgan der Zeitungen, wird das Vorgehen sicherlich nach eingehender Prüfung rügen - was für Bild-Chef Julian Reichelt wohl mehr einer Auszeichnung denn einem Tadel gleichkommen dürfte.

Besondere Verantwortung

Solingen zeigt, dass Medien eine besondere Verantwortung inne haben. Eine, die im rechten Moment auch im Nicht-Veröffentlichen von Sachverhalten bestehen kann. Bei allem Verständnis für die schnelle Schlagzeile und für gut verkaufbare Inhalte - es gibt Grenzen.

Das gilt übrigens auch für die Meinungsfreiheit. Wenn eine taz-Kolumnistin Polizisten indirekt als Müll bezeichnet hat, mag der Presserat darin keinen Verstoß erkennen. Es sei legitim, so das Gremium, wenn die Autorin für Ex-Polizisten eine Mülldeponie als einzig geeigneten Verweilort ansehe. Anders formuliert: eine Geschmacksfrage. Diese Presserats-Argumentation darf angezweifelt werden. Denn wie bei der Solinger Berichterstattung gilt auch hier: Wenn Menschen diffamiert werden oder sich diffamiert fühlen können, ist eine Grenze überschritten - nicht nur die des guten Geschmacks.

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