"Hoffnung, dass Maduro eines Tages angeklagt wird"

Flucht im Rollstuhl: Warum der Menschenrechtler Walter Marquez aus Venezuela floh

24.8.2021, 05:55 Uhr
Walter Marquez hat seine Heimat Venezuela verlassen und Unterschlupf im benachbarten Kolumbien gefunden.

© privat, NN Walter Marquez hat seine Heimat Venezuela verlassen und Unterschlupf im benachbarten Kolumbien gefunden.

Die Umstände der Flucht sind abenteuerlich: Márquez sitzt seit seiner Kindheit im Rollstuhl und floh über die grüne Grenze nach Kolumbien, wo er sich nun an einem geheimen Ort versteckt hält. Alle zwei Tage wechselt er das Mobiltelefon, um nicht geortet zu werden. Uns ist es gelungen, zu ihm Kontakt aufzunehmen.

Herr Marquez, sie kritisieren die venezolanische Führung schon sehr lange in aller Öffentlichkeit. Wieso sahen sie sich gerade jetzt zur Flucht veranlasst?
Weil meine letzten Aktionen der Regierung Maduro wohl so ein großer Dorn im Auge sind, dass sie die Schlinge merklich enger zieht.

Von was für Aktionen sprechen Sie?
Ich wollte in Begleitung zweier Anwälte in die kolumbianisch-venezolanische Grenzregion fahren, um dort nach einer Vertreibungsaktion der Regierung, bei der mehrere Menschen getötet worden waren, die Aussagen von Augenzeugen aufzunehmen. Unterwegs erfuhren wir, dass die Polizei mehrere Straßensperren eingerichtet hatte, um uns aufzuhalten und unser Vorhaben zu unterbinden. Wir sind dann über die grüne Grenze und haben es geschafft, diese Aussagen zu dokumentieren, damit wir sie später bei einer Anklage verwenden können. Doch damit haben wir den Bogen offenbar überspannt.


Was meinen Sie?
Die Anwälte, die mich begleitet haben, wurden nach ihrer Rückkehr nach Venezuela verhaftet. Einer ist immer noch verschollen, soviel ich weiß. Da wurde mir klar, dass mich meine Popularität im Land nun nicht mehr schützt. Also kann ich bis auf weiteres nicht zurück.

Sind Sie wegen Ihrer Arbeit zuvor schon bedroht worden, oder auch Leute aus ihrem engeren Umfeld?
Ich bin bislang weder polizeilich noch gerichtlich verfolgt worden, allerdings wurden einige nahe Verwandte willkürlich inhaftiert, manche gar gefoltert. Mit anderen Worten: Obwohl das Regime nicht gegen mich persönlich vorgegangen ist, gibt es keinerlei Sicherheit für Menschenrechtsverteidiger im Land. Zahlreiche Aktivisten wurden bereits Opfer der Regierung Maduro.


Ist das belegt?
Durchaus. In ihrem letzten Bericht vom Juli 2021 erklärte Michelle Bachelet, die Hohe Kommissarin für Menschenrechte der Vereinten Nationen, dass ihr Büro 97 Vorfälle registriert habe, bei der Menschenrechtsverteidiger von staatlicher Seite verfolgt wurden. Darüber hinaus hat die venezolanische Regierung versucht, die NGOs im Land zu kriminalisieren. Unter anderem wurden deren Mitarbeiter in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt.

Der Niedergang Venezuelas wird vom Rest der Welt kaum wahrgenommen – wie erklären Sie sich das?
Wir haben sehr wohl registriert, dass es mit Blick auf die Situation in Venezuela viele kritische Äußerungen von Staats-, Regierungs- und Parlamentschefs gegeben hat, jedoch keine wirksamen Schritte vor dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH). Im September 2018 haben dort sechs seiner Mitgliedsstaaten - Kolumbien, Kanada, Chile, Paraguay, Peru und Argentinien – Ermittlungen gegen Nicolás Maduro beantragt. Doch das ist bislang ohne Ergebnis geblieben. Aus verfahrensrechtlicher Sicht sind bislang keine Klagen anhängig.

Bisher sind Ihre Vorstöße, Präsident Maduro vor den Internationalen Strafgerichtshof zu zitieren, gescheitert. Gibt es neue Beweismittel, die Ihre Anschuldigungen stützen?
Es gibt genug Beweise. Ich halte die Untätigkeit von Fatou Bensouda, der ehemaligen IStGH-Chefanklägerin, für ein grobes persönliches Versagen. Ihr lagen vernünftige Argumente und ausreichend Berichte vor, welche nahelegen, dass die Regierung Maduro in Venezuela Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat. Im Dezember 2020 veröffentlichte der Sonderberater des OAS-Generalsekretariats, Jared Genser, einen neuen Bericht, in dem die mangelnde Aktivität des IStGH-Anklägers bei der Untersuchung von Verbrechen gegen die Menschheit in Venezuela hervorgehoben wird.

Was genau steht in diesem Bericht?
Darin heißt es, dass es in Venezuela seit 2014 mindestens 18.093 außergerichtliche Hinrichtungen gegeben hat, dazu 15.501 willkürliche Inhaftierungen. Gemäß einem Bericht der Vereinten Nationen sind in meiner Heimat rund sieben Millionen mangelernährt. Mehr als 100.000 Kinder unter fünf Jahren sind sogar akut unterernährt. Darüber hinaus sind zwischen 2018 und 2019 insgesamt 724 Fälle von „Verschwindenlassen“ sowie 653 Fälle von Folter dokumentiert.


Gibt es weitere Anklagepunkte?
Ja, ich weise darauf hin, dass Nicolás Maduro für Zwangsabschiebungen und Vertreibungen verantwortlich ist, die sich im August 2015 an der kolumbianisch-venezolanischen Grenze ereignet haben. Dazu habe ich neue Beweise vorgelegt, darunter ein Urteil des kolumbianischen Verfassungsgerichts aus dem Jahr 2015. Es geht um fast 25.000 Opfer.

Wie schätzen Sie Karim Khan ein, den neuen Chefankläger des IStGH?
Seine beiden Vorgänger Luis Moreno Ocampo und Fatou Bensouda, die jeweils neun Jahre im Amt waren, haben sich in meinen Augen um die Greueltaten des ehemaligen Präsidenten Hugo Chávez und dessen Nachfolger Maduro nie wirklich gekümmert, ja sogar weggesehen. Moreno Ocampo, der von 2004 bis 2012 das Amt des Chefanklägers innehatte, stellte sogar alle Ermittlungen gegen Chávez ein. Jetzt kommt ein neuer Staatsanwalt: Karim Khan verfügt über ein sehr solides akademisches und berufliches Profil und hatte in früheren Funktionen bei den Vereinten Nationen schon mit Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu tun. Das macht mir durchaus Hoffnung, dass Maduro eines Tages angeklagt und für seine Taten zur Rechenschaft gezogen wird.

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