Gänse und "Drachenlord": Häme, Hetze und Hass

23.8.2018, 05:57 Uhr
Wenn Hass im Internet zur realen Gefahr wird: In Altschauerberg trafen sich Anfang der Woche Hunderte Menschen, um gegen den YouTuber "Drachenlord" zu hetzen.

© Harald Munzinger Wenn Hass im Internet zur realen Gefahr wird: In Altschauerberg trafen sich Anfang der Woche Hunderte Menschen, um gegen den YouTuber "Drachenlord" zu hetzen.

Was bewegt Menschen, in Mafiamanier einem Bürgermeister in Nürnberg mit Mord zu drohen, ihm im Streit um abgeschossene Gänse einen Backstein vor die Tür zu legen und anzukündigen, dass der nächste im Haus landet? Weshalb nölen Bewohner in Erlangen herum, wenn nachts über ihrem Viertel ein Hubschrauber kreist, weil eine vermisste Person gesucht wird?

Warum reisen Internetnutzer Hunderte Kilometer zu einem Haus nahe Emskirchen, dessen Bewohner sie seit Jahren auf seinem YouTube-Kanal folgen, um nun sein Haus mit Farbbeuteln und Böllern zu bewerfen? Und gibt es irgendeine nachvollziehbare Erklärung dafür, dass hasserfüllte Kommentatoren im Internet einem erfolgreichen US-Rapper den Absturz wünschen, noch während sein Privatjet im Luftraum mit 16 Passagieren an Bord kreist und sich die Piloten mit geplatzten Reifen auf eine Notlandung im Raum New York vorbereiten müssen?

Vorfälle zeugen von Hetze und Hysterie

Dieser Beitrag ist ein sehr persönlicher, sicher unvollständiger Erklärungsversuch. Er greift Fälle nur aus den letzten Tagen auf, darunter die aus dem Ruder gelaufene Debatte über die Bejagung von Gänsen am Wöhrder See in Nürnberg, die sicher auch bei anderen Lesern und Usern viele Fragen aufwerfen; und die sich beliebig ergänzen ließen durch weitere (Aus-)Fälle allein aus der jüngsten Zeit. Sie zeugen von Hass, Häme, Hetze und Hysterie.

Ganz ehrlich: Mich machen diese Reaktionen fassungslos. Daher endet der Artikel zumindest mit dem Versuch, einige Ansätze für eine Lösung aufzuzeigen. Vorher aber versuche ich, mich dem Phänomen der "öffentlichen, verbalen Hinrichtung" – bevorzugt im Netz, aber eben, siehe den Fall von Nürnbergs Bürgermeister Christian Vogel, nicht nur – mit einigen Schlüsselworten zu nähern. Bitte sehen Sie mir nach, sollten die Begriffe etwas antiquiert wirken. Sind sie aber nicht. Ich bin der Überzeugung, dass sie wichtig und notwendig sind für einen Erklärungsversuch – und vor allem für eine mögliche Lösung (oder zumindest Besserung der Situation).

Also: Weshalb ticken Leute einfach so aus?

Vielen Menschen mangelt es mittlerweile an der nötigen Besonnenheit und Gelassenheit. Besonnenheit ist das Gegenteil von Impulsivität. Doch diese erleben wir derzeit so ausgeprägt wie nie in den Kommentarspalten im Internet, aber auch beispielsweise im Straßenverkehr, bei Einsätzen der Polizei und Rettungskräfte oder nicht selten bei Kundenkontakten. Es geht laut Wikipedia bei Besonnenheit um die "überlegte, selbstbeherrschte Gelassenheit, die besonders auch in schwierigen oder heiklen Situationen den Verstand die Oberhand behalten lässt, um vorschnelle und unüberlegte Entscheidungen oder Taten zu vermeiden".

Was uns zum nächsten Begriff bringt: Nachdenken. Wer impulsiv, unbeherrscht, gar wütend handelt, der schaltet eben nicht selten vorschnell den Verstand aus. Er denkt nicht nach.

Ein anonymer Kommentar ist schnell abgesetzt

Das Internet, besonders aber die sogenannten sozialen Medien – und hier kommt die technische Komponente der aktuellen, unschönen Entwicklung hinzu – haben das unbedachte Handeln und Reagieren beschleunigt. Ein anonymer Kommentar oder auch immer öfter das herabwürdigende Statement unter Angabe der vollen Adresse ist schnell abgesetzt, hat doch fast jeder mittlerweile ein Smartphone dabei. Man schaut eben seinem Gegenüber nicht mehr in die Augen, das enthemmt. Der Respekt geht verloren.

Plötzlich stimmt dann auch – noch ein Schlüsselwort – die Verhältnismäßigkeit der Reaktionen nicht mehr zum Ereignis. Wer greift denn Menschen an, die anderen Menschen in Not helfen wollen? Wer kritisiert nächtens unreflektiert den Einsatz eines Hubschraubers, ohne die Hintergründe zu wissen? Meinen die allen Ernstes, da fliegt einer nur aus Jux und Tollerei durch die Stadt?

Es fehlt an Empathie

Was würden denn die "Hater", die empörten Bürger tun, wenn sie selbst einen Angehörigen vermissen würden? Wenn ihr Kind etwas verschluckt hat und zu ersticken droht? Sie würden die Polizei oder den Notarzt rufen, die dann angesichts der lebensbedrohlichen Situation unter Umständen eben auch den Hubschrauber einsetzen.

Es fehlt Teilen unserer Gesellschaft an Empathie. An der Bereitschaft und der Fähigkeit, sich in die Einstellungen und Befindlichkeiten, die Motive und Gedanken anderer Menschen einzufühlen. Sich auf sie einzulassen, auf ihr Tun.

Hier kommt ein weiterer Begriff ins Spiel: Die Wertschätzung des anderen, die Wertschätzung auch einer anderen Meinung hat in unserer Gesellschaft massiv gelitten. Eigene Meinungen werden oft als einzig richtig und gerecht dargestellt. In ihrer Rigorosität schießen, ja, auch manche Tierschutzorganisationen über das Ziel hinaus. Sie fordern unbedingte Akzeptanz ihrer Positionen, ohne andere gelten zu lassen. Wie soll da noch ein Dialog funktionieren?

Vielen ist auch die Kritikfähigkeit verloren gegangen. Das meine ich im doppelten Sinne: Kritiker schießen maßlos über das Ziel hinaus. Warum, so fragt eine Kollegin, werde man in der Redaktion gleich der "Unfähigkeit" bezichtigt, weil ein Wort falsch geschrieben worden ist? Und Kritisierte reagieren nicht selten über, wenn ihnen Fehler vorgehalten werden.

Wie kann eine Lösung aussehen?

Ein Weg ist, Respekt und Rücksicht wieder stärker einzufordern. Das muss notfalls durch (verschärfte) Gesetze geschehen. Wie bei rücksichtslosem Verhalten gegenüber Polizisten oder Rettungskräften. Das muss aber auch gesellschaftlich angegangen werden. Eltern, Lehrer, Erzieher, Ausbilder, Professoren, Trainer oder Gruppenleiter müssen von ihren Kindern, Schülern, Schützlingen, Lehrlingen, Studierenden oder Jugendlichen wieder sehr viel mehr Wertschätzung für andere einfordern.

Und noch etwas muss passieren: Die große schweigende Mehrheit darf das Netz und auch den öffentlichen Raum nicht mehr einer lauten, hasserfüllten Minderheit überlassen. Es muss deutlich werden, dass Beleidigungen und wüste Beschimpfungen nicht mehr geduldet werden. Sie müssen mit Besonnen-, aber auch Bestimmtheit denen entgegentreten, die andere herabwürdigen. Hass, so heißt es so schön auf dem Foto unserer Titelseite, ist keine Meinung.

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