Infektiologe Christoph Spinner: "Hohe Infektionszahlen begünstigen Mutationen"

21.4.2021, 18:51 Uhr
Dr. Christoph Spinner

© © argum / Falk Heller Dr. Christoph Spinner

Herr Dr. Spinner, es gibt immer wieder Meldungen über weitere Coronavirus-Mutanten, die teilweise auch schon hier angekommen sein sollen: Brasilianische, südafrikanische, indische. Wie hoch schätzen Sie die Gefahr ein, dass wir es in Deutschland mit einer Mutation zu tun bekommen, die ebenso dominant wird wie die britische Variante?


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Christoph Spinner: Neue Varianten als Folge von Mutationen sind bei Viren völlig normal. Als besorgniserregend gelten Sie im Kontext Covid-19 erst dann, wenn gesicherte Erkenntnisse für eine deutlich schnellere Verbreitung und/oder eine höhere Sterblichkeit existieren. Beides ist derzeit etwa für die indische Variante B1.617 noch nicht belegt, weshalb sie aktuell nicht als besorgniserregend gilt. Dennoch besteht auch in Deutschland bei anhaltend hohen Infektionszahlen die Möglichkeit, dass neue Varianten auftreten. Diese Wahrscheinlichkeit sinkt, wenn die Neuinfektionszahlen bei guter Schutzwirkung von Covid-19-Impfungen zurückgehen; bei anhaltend hohen Infektionszahlen gibt es indes eine höhere Wahrscheinlichkeit von Mutationen, das belegt die Statistik.

Welche Mutante halten Sie für die gefährlichste? Gibt es auch Mutationen, gegen welche die bisherigen Impfstoffe überhaupt nicht wirken?

Spinner: Bisher ist vor allem die P.1 – also die brasilianische Variante - mit einer höheren Sterblichkeit assoziiert. Bei der südafrikanischen P.351-Variante ist die Neutralisationsleistung der Impfstoffe auch in klinischen Studie relevant erniedrigt - bei AstraZeneca etwa um zehn Prozent. Auch bei BioNtech/Pfizer besteht eine moderat reduzierte Neutralisationsleistung der Impfstoffe im Labor und trotz vollständiger Impfung eine höhere Wahrscheinlichkeit einer Infektion mit der südafrikanischen Variante, wie eine Studie aus Israel dieser Tage zeigte. Dennoch schützt der BioNtech/Pfizer Impfstoff auch hier vor schweren Verläufen.


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Halten Sie es für möglich, dass trotz Erreichen der Herdenimmunität durch Impfung eine neue Pandemie durch ein mutiertes Corona-Virus ausbrechen kann?

Spinner: Sofern die Impf-Antikörper gegen neue Varianten im Labor aktiv sind, werden auch die Covid-19-Impfstoffe weiterhin wirksam sein.

Halten Sie es für realistisch, dass in Deutschland die Herdenimmunität wie von der Politik versprochen im Spätsommer erreicht wird? Und welchen Prozentsatz nehmen Sie an?

Spinner: Die Herdenimmunität berechnet sich gemäß 1-(1/R0), wobei der R0-Wert die Basisreproduktionszahl* von Covid-19 angibt. Nimmt man R0 (3,3-3,8) an, ergibt sich eine zu immunisierende Personenzahl von etwa 74 Prozent. Da wir in Deutschland sehr viel mehr Impfstoff bis zum Sommer geliefert bekommen werden, bin ich zuversichtlich, dass dieses Versprechen eingehalten werden kann. Garantien gibt es freilich nicht.

Wie entwickelt sich derzeit bei Ihnen im Klinikum die Zahl der behandelten Covid-19-Patienten? Inwieweit sind Jüngere betroffen? Stimmt es, dass sich die Erkrankungsdauer verlängert?


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Spinner: Die Zahl der Covid-19-Patienten am Universitätsklinikum rechts der Isar der Technischen Universität München ist in den vergangenen Wochen kontinuierlich gestiegen: Sie hat sich seit Mitte März auf unseren Normal- und Intensivstationen mehr als verdoppelt. Das Durchschnittsalter der Erkrankten ist im Vergleich zur ersten Welle leicht von im Schnitt 68 Jahren auf aktuell durchschnittlich 63 Jahre gesunken. Da auf den Intensivstationen des Klinikums auch zahlreiche Patienten mit anderen Erkrankungen behandelt werden, ist die Situation dort angespannt. Sollten weitere Intensivbetten für Covid-19-Erkrankte benötigt werden, wird das Klinikum – wie in den ersten beiden Covid-19-Wellen – die erforderlichen Maßnahmen ergreifen, um zusätzliche Kapazitäten zu schaffen.

Unter anderem die bayerische Staatsregierung und deren Pandemiebeauftragter Florian Herrmann halten am Inzidenzwert als Grundlage für alle Seuchenbekämpfungsmaßnahmen fest. Es gibt viele Vorschläge, auch noch andere Kriterien heranzuziehen. Wie sehen Sie das?

Spinner: Durch die zunehmende Immunisierung der Personen mit Risiko für einen schweren Verlauf sind die Todeszahlen signifikant zurückgegangen. Obgleich jetzt die Neuinfektionszahlen nach Modellen fast auf dem Höhepunkt der zweiten Welle sind, und derzeit vor allem die hohe Intensivauslastung ein Problem darstellt, ist der Diskurs um die Inzidenzwerte aus meiner Sicht wichtig. Eine sinnvolle Ergänzung könnte künftig die Intensivbettenbelegung sein – absolut betrachtet und auch nach Covid-19-Erkrankten und Patienten mit anderen Leiden.

Sehen Sie einen medizinischen Grund, Menschen, die eine Covid-19-Erkrankung durchgemacht haben, mit Auflagen wie Test- und Maskenpflichten, Ausgangs- und Besuchsverbote zu belasten wie alle anderen?

Spinner: Nach derzeit geltenden Empfehlungen sollen Genesene eine einmalige mRNA-Immunisierung nach Monaten erhalten und sind mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit gut geschützt. Sie sind mit zweifach geimpften, Nicht-Covid-19-Erkrankten gleichzusetzen. Dennoch bleibt ein Risiko von Impfdurchbruchsinfektionen, allerdings mit milderer und moderateren Erkrankung.


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Inwieweit ist inzwischen gesichert, dass Menschen, die eine Covid-19-Erkrankung durchgemacht haben sowie solche, die vollen Impfschutz erreicht haben, nicht mehr infektiös sind?

Spinner: Genesene verfügen mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit mehrere Monate nach Erkrankung über Immunität, wobei die Erkrankungsschwere mit höheren Antikörper-Spiegeln einhergeht. Hierbei könnten aber auch Virusvarianten Auswirkungen auf schlechteren Schutz haben, was teilweise von der P1-Variante aus Brasilien berichtet wird. Vollständiger Impfschutz wird etwa 14 Tage nach der zweiten Impfung erreicht, wobei dann eine sehr hohe Schutzwirkung vor schwerem Covid-19 für den Geimpften einhergeht, abhängig vom Impfstoff zudem auch ein hoher bis sehr hoher Schutz vor einer Infektion und damit zugleich vor einer Übertragung.

Also können diese Menschen auf die AHA-Regeln eigentlich verzichten?


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Spinner: Vor Erreichen der Herdenimmunität ist die Einhaltung von AHA-Regeln unausweichlich. Bedenken Sie, dass die Schutzwirkung nach der ersten Impfung frühestens nach sieben bis zehn Tagen einsetzt und nach etwa zwei bis drei Wochen bei 50 bis 80 Prozent liegt.

Meinen Sie, dass durch das beabsichtigte Bundesinfektionsschutzgesetz inklusive "Notbremse" genug getan wird, um die laufende dritte Infektionswelle zu brechen und die Infektionszahlen wieder zu senken?

Spinner: Maßnahmen der Infektionskontrolle bleiben bis zum Erreichen der Herdenimmunität zweifelsohne weiter wichtig. Aus medizinisch-wissenschaftlicher Sicht liegen die Fakten auf dem Tisch. Aber die Entscheidung der konkreten Regeln obliegt allein der Politik.

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