"Gut für die Umwelt, schlecht für die Jugend"

Kritik an der Ampel-Koalition: Eine Politikwissenschaftlerin im Interview

25.11.2021, 17:32 Uhr
Ursula Münch, Politikwissenschaftlerin und Direktorin der Akademie für politische Bildung in Tutzing.

© imago images/Jürgen Heinrich, NN Ursula Münch, Politikwissenschaftlerin und Direktorin der Akademie für politische Bildung in Tutzing.

Frau Münch, bei drei Beteiligten gibt es immer einen Verlierer. Wer ist das?
Ursula Münch:
Das sehe ich nicht, dass es automatisch einen Verlierer geben muss. Da haben nicht zwei gegen einen gekämpft. Ich schließe mich auch nicht der Interpretation an, dass die Grünen und ihre Themen zu kurz gekommen seien. Ich sehe im Gegenteil viel Klimaschutzpolitik im Vertrag.

Aber die FDP hat sich in weiten Bereichen doch durchgesetzt.
Natürlich hat die FDP gut verhandelt; die anderen mussten ihr aber von vorneherein Zugeständnisse machen. Das war immer so, auch in den so genannten kleinen Koalitionen, dass die FDP inhaltlich und personell überrepräsentiert war. So ist das, wenn man jemanden dabei haben will. Aber ich finde in diesem Vertrag viele grüne Themen, die nicht nur grün sind; sie müssen in jedem Koalitionsvertrag stehen, egal in welcher Konstellation.

Grün und liberal

An was denken Sie?
Daran, dass wir einen massiven Ausbau der erneuerbaren Energien brauchen oder dass der Kohleausstieg als Ziel formuliert ist. Wir haben viele Themen, die grün und auch liberal sind wie die Digitalisierung oder den Bürokratieabbau. All das sind schlicht Fragen der Zeit. Und die finden sich wieder im Vertrag.

Auch wenn die Grünen sich bei der Solarpflicht nicht durchgesetzt haben, sieht die Politikwissenschaftlerin sie nicht als Verlierer.

Auch wenn die Grünen sich bei der Solarpflicht nicht durchgesetzt haben, sieht die Politikwissenschaftlerin sie nicht als Verlierer. © Karl-Josef Hildenbrand, dpa

Wenn Sie den Kohleausstieg erwähnen: Der ist als Ziel vage formuliert mit „idealerweise 2030“, es gibt keine Solarpflicht auf Privathäusern, kein Tempolimit. Das waren grüne Forderungen, und bei der Solarpflicht auch die Hoffnung Bayerns, dass es da weitergehen könnte.
Dafür muss Bayern sich jetzt mit einer Zwei-Prozent-Regelung für Windkrafträder abfinden bezogen auf die Landfläche. Das ist für Bayerns Regierung auch nicht schön.

Sorge um den Föderalismus

Bestätigt sich hier Söders Mantra vom freien Süden gegen den preußischen Norden? Gefährdet der Vertrag den Föderalismus durch einen neuen Zentralismus
Das ist eine typisch Södersche Sichtweise. CDU und CSU sind jetzt in der Opposition. Es hätte mich befremdet, wenn sie wohlwollende Worte für die neue Regierung gefunden hätten. Letztlich ist das nicht glaubwürdig, weil Söder als bayerischer Ministerpräsident in der Vergangenheit immer wieder auf ein stärker einheitliches Vorgehen gedrängt hat in der Pandemie. Insofern kann er jetzt nicht den freien Süden für sich reklamieren. Aber das ist Oppositionsarbeit. Das nehme ich nicht allzu ernst.

In der Pandemie hat er das genutzt, wie es ihm in die Lage gepasst hat. Der Vertrag fordert aber an vielen Stellen, dass der Bund mehr Kompetenzen erhält, von den Hochschulen über die Bildung bis zur Pandemiebekämpfung. Die neue Regierung will den Föderalismus neu aufstellen. Begrüßen Sie das?
Es ist problematisch, wenn der Föderalismus eingeschränkt werden soll. Wir wissen, dass ein Teil der Bevölkerung das anders sieht. Mich irritiert trotzdem, wie nonchalant sich der Bund im Bereich der Bildung ausbreiten will. Wir wissen aber auch, dass er relativ schnell an die Grenzen der Verfassung stoßen wird. Grundsätzlich ist die Diskussion nicht neu. Wir hatten Kooperationsverbote, die wieder gelockert wurden, weil sie in der Praxis nicht funktionieren. Die Union wird das heftig kritisieren, hat das vorher aber auch nicht anders gehandhabt.

"Das wird spannend"

Kooperationsverbot heißt, dass Bund und Länder in der Bildungspolitik nicht zusammenarbeiten dürfen.
Das war das Ansinnen. Das hat die letzte Bundesregierung gelockert unter Beteiligung von CDU und CSU und mit Blick auf den Digitalpakt.


Die Digitalisierung ist eines der großen Themen der Koalition. Halten Sie es für vernünftig, wenn Bund und Länder hier zusammenarbeiten, auch mit Blick auf einheitliche Standards?
Alles, was die Koalitionäre niederschreiben, muss von den Ländern und Kommunen umgesetzt werden. Natürlich ist es abenteuerlich, dass viele Systeme nebeneinander stehen. Und es ist richtig, dass diese Regierung das anpacken will. Aber auch sie wird sich die Zähne daran ausbeißen. Richtig bleibt: Der Bund muss sich enger mit den Ländern absprechen. Und das wird spannend, weil die Ampelparteien außer in Bayern in jeder Länderregierung vertreten ist. Die Bundesparteien müssen das jetzt in ihre Landesverbände tragen und sie dazu bewegen, dass sie es auch umsetzen.

Mehr Macht

Steigt damit die Macht des Bundesrates? Das wäre im Sinne des Föderalismus.

Diese Macht war schon bisher groß. Auch die große Koalition musste Rücksicht nehmen auf die Länder, in denen die Grünen beteiligt waren. Es ist nicht neu, dass die Mehrheitsverhältnisse zwischen Bund und Ländern unterschiedlich sind. Das wirkt sich immer auch auf das Gesetzgebungsverfahren aus.

Der Ausstieg aus der Kohle ist beschlossene Sache. Wann genau, bleibt offen. Doch das sei keine Niederlage für die Grünen, sagt Prof. Münch.

Der Ausstieg aus der Kohle ist beschlossene Sache. Wann genau, bleibt offen. Doch das sei keine Niederlage für die Grünen, sagt Prof. Münch. © Florian Gaertner/photothek.net via www.imago-images.de, imago images/photothek


Der Koalitionsvertrag versucht, die Gesellschaft als divers wahrzunehmen und zu fördern. Die Rolle der Frauen soll endlich angemessen beachtet werden. Es soll eine feministische Außenpolitik geben. Sehen Sie Chancen dafür oder halten Sie das für zu ambitioniert?
Es ist richtig und findet sich im Vertrag immer wieder. Er spricht von Verantwortungsgemeinschaften jenseits der klassischen Paarbeziehungen. Das hat es so in der Republik noch nicht gegeben. Die Koalition will darauf reagieren, dass sich unsere Gesellschaft verändert hat, auch durch Zuwanderung. Die Gesellschaft ist weiter als der Gesetzgeber. Ein Vorteil: Es kostet wenig im Vergleich mit anderen Maßnahmen.


Weil Sie das Geld ansprechen: Die Regierung will keine Steuern erhöhen, dafür mehr Abschreibemöglichkeiten schaffen, 400 000 Wohnungen im Jahr fördern und dergleichen. Es ist ein teures Programm. Ist das gegenfinanziert?
Viel habe ich dazu nicht gefunden. Das war schon bei den Wahlprogrammen so und dann bei den Sondierungen, dass die Gegenfinanzierung offengeblieben ist. So viel ist klar: Die neue Regierung kann Schulden aufnehmen, weil die Schuldenbremse erst 2023 wieder greift. Das ist statthaft mit Blick auf die Pandemie; aber ob sich so die sozialpolitischen Geschenke und die Klimapolitik finanzieren lassen, sehe ich nicht. Für mich kommt das größte Fragezeichen allerdings hinter das Renten-Versprechen. Es ist unseriös, wenn die Regierung hier nichts verändert, weder am Eintrittsalter, noch an den Beiträgen oder am Rentenniveau. Das ist komplett unrealistisch.

Kritikpunkt Rente

Die neue Koalition will etliche Projekte anstoßen. Woher sie das Geld nehmen wird, geht für Münch aus dem Vertrag allerdings nicht hervor.

Die neue Koalition will etliche Projekte anstoßen. Woher sie das Geld nehmen wird, geht für Münch aus dem Vertrag allerdings nicht hervor. © imago images/Frank Sorge

Ist das für Sie einer der Knackpunkte?
Diese Koalition stellt sich als jugendfreundlich dar. Ich fände es jugend- und demokratiefreundlicher, wenn sie weniger über die Legalisierung von Cannabis und das Wahlalter redet. Den Jungen macht das Thema Rente erheblich mehr Sorgen. Darüber kann das frühere Wahlalter nicht hinwegtrösten.

Über das niedrigere Wahlalter könnten doch die Jüngeren aktiv eingreifen.
Ach ja? Schauen Sie doch mal auf die Alterspyramide. Daran ändert das Wahlalter 16 rein gar nichts. Die Generation der Babyboomer und die Generation darüber wird noch über Jahrzehnte die Wahlen entscheiden.

Unsere Gesellschaft wird immer älter. Dass die Koalition bei der Rente nicht handelt, hält Prof Münch für einen Affront gegenüber den Jungen.

Unsere Gesellschaft wird immer älter. Dass die Koalition bei der Rente nicht handelt, hält Prof Münch für einen Affront gegenüber den Jungen. © imago images/Future Image, NNZ

War das schlicht Klientelpolitik?
So hart will ich das nicht formulieren. Aber es ist Augenwischerei. Es mag manchem Jungen wichtig sein, aber es ändert nichts an den Mehrheitsverhältnissen in der Wählerschaft. Und es ändert nichts daran, dass die Rente der Alten sicher ist, die Frage der Finanzierung aber in die Zukunft wandert.

Das findet sich im Vertrag immer wieder, dass er Versprechen macht, sie aber finanziell nicht hinterlegt, gerade im sozialen Bereich.
Das ist richtig, aber die Rentenversicherung ist einfach der dickste Brocken. Es gibt wichtige und richtige Veränderungen. Dass etwa beim Bürgergeld, bisher Hartz 4, das private Vermögen zwei Jahre unangetastet bleibt, ist sinnvoll. Das hat viele Künstler hart getroffen in der Pandemie, dass sie ihre Reserven aufzehren mussten. Und der Mindestlohn lässt sich leicht beschließen, weil nicht die Regierung ihn bezahlen muss. Aber die Rente ist ein ganz anderes Thema.

Zwei Superminister

Die neue Regierung wird zwei Superministerien haben: Wirtschaft und Klimaschutz für die Grünen, Verkehr und Digitales für die FDP. Ist das vernünftig?
Dass die Themen zusammengehören, erschließt sich schon. Das sind die großen Aufgaben, die auch inhaltlich zusammenhängen. Das Problem ist: Bei jeder Umgestaltung von Ministerien dauert es, bis sie arbeitsfähig sind. Aber insgesamt finde ich die Strukturen überzeugender als das, was bei der bisherigen Regierung gegolten hat.

In der Gesamtschau: Ist der Vertrag ein Aufbruch oder ist er nur der Versuch?
Er ist zwangsläufig nur ein Versuch. Mehr kann er gar nicht sein. Natürlich ist da viel Vollmundiges drin und es wird sich nicht alles umsetzen lassen. Trotzdem enthält er sehr viele Dinge, die tatsächlich notwendig sind.

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