Kaum einer liest Wahlprogramme

Marktforscher vor der Bundestagswahl: So denken die Wähler

2.9.2021, 08:54 Uhr
Plakate haben weit mehr Wirkung als Wahlprogramme - die kaum gelesen werden.

© imago images/sepp spiegl Plakate haben weit mehr Wirkung als Wahlprogramme - die kaum gelesen werden.

Wie ticken die Wählerinnen und Wähler? Stephan Grünewald weiß es. Denn sein Rheingold-Institut legt seit 1998 jeweils ein paar Wochen vor der Bundestagswahl 50 repräsentativ ausgewählte Bürgerinnen und Bürger auf die Couch. Befragt sie nach Parteipräferenzen, Befindlichkeit, Sympathien für Kandidaten und Positionen - in tiefenpsychologischen Gesprächen.

Ein Psychogramm von "Auenland"

Heraus kommt ein Stimmungsbild zur Lage der Nation, viel beachtet und ganz anders als die bloßen "Sonntagsfragen" nach der Wahlabsicht. Ablesbar wird in der Studie des Meinungsforschungsinstituts ein Psychogramm des Landes.

Eines Landes, das den meisten lange als "Auenland" galt, jener heilen Welt aus dem Reich der Hobbits und des Herrn der Ringe. Die Bundesrepublik, ein Hort des Wohlstands und der Stabilität, umgeben von teils schwierigen Nachbarn oder Despoten wie Erdogan und Putin. Und mitten darin Angela Merkel als Stabilitätsanker, mehr oder weniger zähneknirschend gewählt - als Raubtierdompteuse für die Diktatoren rund ums Auenland.

Nun aber war (und ist) Corona. Nun kam die Flut, nun bleibt die Klima-Herausforderung - und Afghanistan. Da sind viele Deutsche "verhalten, teils resignativ", so Stephan Grünewald bei der Präsentation der aktuellen Studie. Viele hätten "keine Idee, wen sie wählen sollen".

Corona als "Alltags-Rhythmus-Störung"

Die Menschen seien "sehr damit beschäftigt, den eigenen Alltag wieder in den Griff zu kriegen", tasteten sich zurück ins öffentliche Leben nach der "Alltags-Rhythmus-Störung", die Corona bedeutet(e). Die Pandemie, so Grünewald, führte dazu, dass die Selbstbezüglichkeit und Ich-Bezogenheit vieler Menschen gewachsen sei. Der Blick verengte sich oft aufs eigene Umfeld. "Manchen reichte die Familie und der Freundeskreis."

Als zentrales Sinnbild, so die "Rheingold"-Forscher, stehe dafür ein Schneckenhaus - und zwar in Schwarz-Rot-Gold. Dahin haben sich viele Deutschen zurückgezogen, da "fühlen sie sich geborgen, da ist die Welt anpackbar". Drinnen sei es "muckelig, überschaubar" – doch draußen aber türmen sich Jahrhundertherausforderungen.

Im "Machbarkeits-Dilemma"

Und da stecken viele - oder wir alle - im "Machbarkeits-Dilemma" (Grünewald). Einerseits realisieren sie spätestens seit der Flutkatastrophe, dass große Veränderungen anstehen, um nicht nur die Klimakrise bewältigen zu können. Andererseits schreckten die Wählerinnen und Wähler jedoch vor den damit verbundenen Einschränkungen und Anstrengungen zurück.

Dieses Dilemma, ja dieses beinahe schizophrene Verhalten spiegelt sich auch beim Blick auf die Bewerber wieder: "Einerseits suchen sie eine Kandidatin oder einen Kandidaten, der die bevorstehende Herkulesaufgabe annimmt und sie kraftvoll aus den Problemen herausführt", so Grünewald, "andererseits konstatieren sie mit einer Mischung aus Enttäuschung und Erleichterung, dass es solch eine Führungsgestalt eben nicht gibt und weder Annalena Baerbock noch Armin Laschet oder Olaf Scholz dieser Aufgabe gewachsen ist." Es gebe die "Tendenz, die Kandidaten auch wieder kleinzureden" - nach dem Motto: Wenn die auch schwach sind, dann muss ich nicht stark sein und mein Leben umstülpen...

Merkel-Bonus hält an - noch

Wie blicken die Wähler auf die Parteien? Die CDU profitiere noch vom Merkelschen Konstanz-Bonus. Sie stehe dafür, dass es irgendwie weitergeht, nicht ganz so schlimm kommt. "Die Herausforderungen sind da, aber die CDU konfrontiert uns nicht damit, es kann erst mal gedeihlich so weitergehen."

Und Armin Laschet? Sein Bild haben sich dramatisch gewandelt - seit seinem "Lach-Momentum" in der Hochwasserkatastrophe habe er "ungeheuer an Sympathie verloren". Die Menschen hätten da die Erfahrung gemacht: Durch die Flut haben wir die äußere Natur nicht unter Kontrolle – und unser möglicher Kanzler hat auch seine innere Natur nicht unter Kontrolle – "was macht der bei Putin", hätten sich da viele gefragt.

Scholz als lachender Dritter - weil er nicht lacht

Ganz anders bei der SPD und Olaf Scholz. Er galt vor Laschets Lach-Attacke als sehr kühl, abgehoben, zu stolz. Jetzt könne er lachender Dritter, werden - eben weil er nicht lacht. Nun gelte er als verlässlich, seriös, als Abarbeiter des Problembergs.

Die Kernfrage sei: Gewinnt die CDU trotz Laschets Lacher oder Scholz trotz der SPD? Alles, was die SPD durchgesetzt habe in der GroKo, das werde der Union und Merkel zugeschrieben. Bei SPD dächten die meisten eher an Hartz IV und an den Spruch: "Wer hat uns verraten? – Sozialdemokraten".

Lindner als "inneres Kind des Wählers"

Die FDP verkleinere das Machbarkeitsdilemma. Ihre Botschaft: Ihr müsst euer Leben gar nicht umstellen, der Fortschritt wird es schon richten. Christian Lindner werde da wahrgenommen wie ein "inneres Kind des Wählers", ein bisschen frech und auch gelegentlich egoistisch bis narzisstisch.

Die Grünen verkörperten das Machbarkeitsdilemma. "Sie sprechen aus, dass es so nicht weitergehen kann." Den "Nimbus der Verbotspartei" hätten sie aber "ganz gekonnt heruntergefahren": Baerbock und Habeck wirkten nicht so fundamentalistisch-asketisch wie Toni Hofreiter und andere. Alltagsnähe, Sinnenfreudigkeit – das Leben bleibt auch mit den Grünen schön und fröhlich. Alles bleibe, wie auf den Plakaten, im lindgrünen Bereich - wir werden nicht zu stark herausgefordert.

AfD: Es gibt gar keine Probleme

Die AfD löse das Machbarkeits-Dilemma auf, indem sie sagt: Es gibt gar keines. Alles werde heillos überschätzt, Flut und Klima seien eben Launen der Natur. Wir müssen unser Leben nicht ändern, sondern zurück zur Normalität.

Und die Linke? Ihr Wahlkampf erscheine vielen radikaler als die AfD-Kampagne. Grünewalds Prognose: "Sie schneiden deutlich schlechter ab als beim letzten Mal."

Insgesamt würden viele zu einer Art "Nimm-Drei"-Programm greifen und ihr "persönliches Koalitions-Süppchen kochen". Mit erstens: etwas konservativer Beständigkeit, wie sie Union, aber auch Olaf Scholz bieten. Zweites: ein grünes Feigenblatt - wir müssen was tun. Drittens: etwas innerer Freiheitsdrang – also FDP. "Wir werden eine Regierung mit Grünen und FDP haben", schätzt Grünewald. Ob dann Laschets CDU oder Scholz und die SPD die Nase vorn haben - für eine Prognose dazu sei es noch zu früh.

Eines aber stellten die Forscher fest: Zwei oder drei der 50 Probanden haben in Wahlprogramme reingeguckt, die für die allermeisten keine Rolle spielen.

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