Mit dem Wahnsinn unter einem Dach

25.3.2020, 19:39 Uhr
Mit dem Wahnsinn unter einem Dach

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Umgeben von unseren Kindern die Zeit zu verbringen, kann großartig sein. Heute aber, da das Coronavirus unseren Bewegungsradius massiv einschränkt, bringt viele Eltern die Allgegenwart des Nachwuchses bisweilen an und über ihre Grenzen. Wie Alltagsstrukturen, die Einbeziehung der zwangsabsenten Großeltern und der achtsame Umgang mit Medien Familien in dieser Ausnahmesituation helfen können, erzählt Bestseller-Autorin und Elterncoach Nicola Schmidt.

 

Frau Schmidt, die Welt befindet sich gerade im Ausnahmezustand. Neben all den großen Fragen treibt viele fremdbetreuungsverwöhnte Eltern um, wie sie ohne Kita, Zoo und Freundetreffen diese Zeit meistern sollen.

Ja, ich kann das gut verstehen, auch bei mir zu Hause ist es eine Umgewöhnung. Auch wenn es total unsexy klingt, kann ich nur raten: Behalten Sie Ihre Tagesstruktur bei. Wer jetzt bis zehn schläft (so die Kinder das zulassen) und sie bis in die Puppen wach lässt, dem wird das um die Ohren fliegen. Wir, sprich mein Mann und meine neun- und zwölfjährigen Kinder, stehen um halb acht auf, ziehen uns an, frühstücken, füttern die Katzen. Dann machen wir zwei Stunden Schule, gehen zwei Stunden raus, essen zu Mittag und so weiter. Man weiß bereits aus der Forschung zu Schiffbrüchigen und Menschen in anderen Extremsituationen, dass Rituale Sicherheit geben. Wichtig ist aber, diese den Kindern nicht einfach überzustülpen, sondern sie mit ihnen zu besprechen. Und sie dann beizubehalten.

 

Viele Eltern sind nun gezwungen, Kinderbetreuung und Arbeit unter einen Hut zu bekommen. Wie ist das zu schaffen?

Wenn beide arbeiten müssen, ist der Wahnsinn natürlich programmiert. Wir zum Beispiel regeln es so, dass wir uns klar definierte Räume schaffen. Mein Arbeitszimmer gehört mir, ohne Bastelkram und Lego. Ist die Tür zu, ist sie zu. Während ich arbeite, spielt mein Mann mit den Kindern. Aber es ist klar, dass wir Abstriche machen müssen. Wir können, das hat Familienministerin Franziska Giffey schön gesagt, nicht 100 Prozent Arbeitnehmer, 100 Prozent Eltern und 100 Prozent Ehepartner sein. Da wären wir 300 Prozent überfordert.

 

Mit dem Wahnsinn unter einem Dach

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Was können Alleinerziehende tun?

Alleinerziehende müssen jetzt besonders nachsichtig mit sich selbst sein. Kochen Sie simpel, werfen Sie halbvolle Spülmaschinen an – alles, was den Stress reduziert, ist erlaubt! Ich war selbst vier Jahre lang alleinerziehend und habe voll gearbeitet. In dieser Zeit habe ich gelernt, mich gut zu strukturieren und mir ein – meist telefonisches – Netz an Freunden aufzubauen. So konnte ich mich austauschen, auch mal ausweinen. In Corona-Zeiten kann ich nur empfehlen: raus an die Luft, kein Multitasking, kein zusätzlicher Druck. Und nutzen Sie jede Pause, die Sie kriegen können, nicht zum Checken von Facebook, sondern für eine kurze Meditationspause für Ihr Gehirn.

All das erfordert Kraft. Spätestens beim 824ten Mal "Mamaaa, der hat mir mein Lego zerhauen!" drohen die Nerven zu zerreißen. Wie schaffen es Eltern, ihre eigene Überforderung nicht an den Kindern auszulassen?

Sie müssen sich Freiräume schaffen. Wer die Möglichkeit hat, sollte die Betreuung so aufteilen, dass er mal eine Stunde allein joggt oder Zeitung liest. Klar ist: Soziale Enge führt zu sozialem Stress. Ich habe mir jahrelang damit geholfen, dass mich mein Handywecker wie eine Tempelglocke stündlich daran erinnert hat, am Fenster durchzuatmen, einen Schluck Wasser zu trinken und fünf Kniebeugen oder sonst was zu machen. Ganz kurz achtsam mit mir selbst zu sein, hilft enorm – auch dem Umfeld. Merken Sie sich: Nicht Multitasking, sondern Monotasking ist angesagt, das dient der Seelenhygiene. Also nicht kochen und telefonieren gleichzeitig. Und bitte: Räumen Sie Ihren Kindern nicht den ganzen Tag hinterher, wir werden sonst ja irre. Ich weiß, dass wir dazu neigen, Kontrollverlust im Außen mit möglichst viel Kontrolle im Innen zu kompensieren. Aber das ist unser Problem – machen Sie es nicht zu dem der Kinder. Definieren Sie Räume, in denen Chaos herrschen darf. Etwa in einer Ecke des Wohnzimmers oder in den Kinderzimmern. Räumen Sie nicht abends auf, wenn alle müde sind, sondern vormittags, wenn noch alle fit sind (dann kann man auch viel besser spielen). Du die Papierschnipsel, du die Bastelsachen, ich den Staubsauger. So vermüllen Sie nicht völlig und entspannen die Situation.

 

Nun ist der Grund für besagte "soziale Enge" ja ein überaus ernster. Wie kann man das Thema Corona Kindern vermitteln?

Das kommt aufs Alter an. Schülern kann man die Lage durchaus erklären, es gibt ja auch sehr gute Stücke von der Sendung mit der Maus oder Quarks & Co. Ich wäre aber sehr vorsichtig, Kinder Nachrichten gucken zu lassen oder den ganzen Tag das Radio laufen zu lassen. Für Jüngere fand ich dieser Tage die Erklärung eines Kinderarztes aus dem stark betroffenen italienischen Ort Bergamo sehr schön. Er erklärt, dass dieses Virus wie ein winziges Tierchen ist, das vor allem alte Leute krankmachen kann. Dieses Virus ist aber nicht nur fies, sondern auch sehr faul. Und das ist seine Schwäche. Denn es braucht uns, damit es sich fortbewegen und auf andere springen kann. Weil wir ihm diesen Gefallen nicht tun, bleiben wir in unserer Wohnung und unserem Viertel. Wir hungern das Biest aus – und dann wird wieder gekuschelt. Ach, und bitte sagen Sie niemals, niemals, auch wenn Sie mal noch so zornig sind: "In Italien sind jetzt schon 5000 Leute gestorben, und du willst immer noch auf den Spielplatz." Das verstehen Kinder nicht, die leben im Hier und Jetzt und das dürfen sie auch. Ich weiß, Sie würden das nicht sagen, ich erwähne es hier zur Senibilisierung nur vorsorglich. . .

 

Was tun, wenn Kindern die Lage dennoch Angst macht?

Zunächst: Kinder dürfen Angst haben. Tun Sie das nicht ab, lassen Sie sie erzählen, was in ihnen vorgeht. Wenn auch Sie als Eltern die Lage ängstigt, können sie das ruhig sagen. Kinder irritiert es, wenn sie auf emotionaler und verbaler Ebene Unterschiedliches vermittelt bekommen. Aber versichern Sie Ihrem Kind, dass wir Erwachsenen uns kümmern. Und dass sie sich darauf verlassenen können, dass Oma und Opa auf sich aufpassen. Ebenso wie wir, die wir für sie einkaufen und das faule Virus eben nicht zu anderen schleppen.

Apropos Oma und Opa: Wie können Familien trotz Zwangsdistanzierung in Kontakt bleiben?

Auf jeden Fall können und sollten wir sie in unseren Alltag einbinden. Es gibt zum Beispiel den guten alten Brief, in den wir auch Bilder und Gebasteltes reinlegen können. Und im digitalen Zeitalter gibt es noch andere tolle Möglichkeiten: Wir können Podcasts produzieren, den Tag über Fotos schießen und eine Dia-Show daraus schneiden, wir können Filme drehen, manche Großeltern lesen sogar via Skype vor. Das alles macht Spaß, schafft Beschäftigung. Und zeigt Kindern nebenbei, dass Tablet und Computer mehr sein können als nur Berieselungsmaschinen und Zauberkisten, in denen irgendwelche dopamininduzierten Spiele gespielt werden.

 

Stichwort Berieselungsmaschine: TV und Handy sind die effektivsten Ausknöpfe für Kinderchaos. Wie steht es um den Medienkonsum in Zeiten von Corona?

Bevor Eltern ausflippen, ist es aus meiner Sicht total legitim, Kinder mal vor dem Fernseher zu parken. Gleichzeitig muss uns aber klar sein, dass Kinder danach nicht ausgeglichen zum Essen kommen. Stattdessen sind sie aufgedreht und vollgepumpt mit Eindrücken und schnellen Schnitten. Das heißt, ich sollte danach die gleiche Zeit, die ich sie zuvor ruhiggestellt habe, einplanen, um sie wieder runterzufahren. Rausgehen, sie erzählen und toben lassen. Also nicht schimpfen: "Jetzt konntest du eine Stunde Mascha und der Bär gucken, jetzt sei bitte auch dankbar und ruhig." Nein. Jetzt sind die Eltern am Zug.

 

Dennoch werden viele traurig sein, wenn sie Großeltern und Spielgefährten vorerst nicht treffen können. Wie können Eltern diesem Frust begegnen?

Kinder dürfen wütend und traurig sein, dass wir nicht mit Oma in die Ferien fahren, dass wir nicht, wie versprochen, ins Kino gehen und Fußball so lange ausfällt. Wir zum Beispiel haben gestern mal kollektiv geschimpft und gejammert. Das rauszulassen tut gut, sonst fliegen einem die Emotionen zu den ungünstigsten Zeitpunkten um die Ohren, etwa wenn die kleine Schwester die Legoburg zertrümmert oder die Erdbeermarmelade aus ist.

 

Dass besagte Erdbeermarmelade oder das Lieblingsmüsli jetzt öfter mal nicht sofort nachgekauft wird, wird für manche eine ganz neue Erfahrung sein. . .

Das ist eine der Chancen dieser Krise. Wir Erwachsenen haben bereits gelernt, dass es verschwendete Energie ist, sich brüllend auf den Boden zu werfen, weil die Schokolade alle ist. Aber Kinder beherrschen diese sogenannte Coping-Strategie noch nicht. Deshalb dürfen sie auch schimpfen und schreien. Unser Job ist es, uns neben sie zu setzen, und zu sagen: "Schatz, ich verstehe das, ich werde auch kirre, wenn mein Kaffee alle ist. Aber schau, wir gehen in drei Tagen wieder einkaufen, ich schreibe das hier auf die Liste. Gibt es sonst noch was, das drauf soll?" Dann fühlen sie sich ernst- und mitgenommen und lernen besser, mit dem ihnen ungewohnten Verzicht umzugehen. Und auch hier gilt: Bitte nicht die Afrika-Keule, im Sinne von: Dort freut sich jedes Kind über ein Schälchen Reis am Tag. Wir haben unseren Kindern bis hierhin brav beigebracht, dass fast alles immer verfügbar ist. Entsprechend ist es auch unsere Pflicht, mit ihrem Frust jetzt umzugehen.

 

Apropos Pflicht: Schulkinder müssen von zuhause aus Hausaufgaben machen, bisweilen überfordert das die Eltern. Wie streng nehmen Sie persönlich es damit?

Bei uns gehört das zwei Stunden am Tag dazu. Aber ganz ehrlich: Wenn meine Kinder unbedingt spielen wollen, machen wir halt nur ne halbe Stunde. Und wenn wir am Ende des Schulausfalls nur 25 der 35 Arbeitsblätter geschafft haben, wird davon die Welt nicht untergehen. Wir nehmen das ernst, stellen aber den Hausfrieden nicht darüber.

 

Schon jetzt fragen viele Kinder: Wie lange dauert das Ganze noch?

Ja, das fragen wir uns doch auch, oder? Wir haben zuhause einen Kalender, indem ich zunächst die Zeit bis nach den Osterferien angemarkert habe, das macht es sicht- und begreifbarer als eine bloße Zeitangabe. Aber sagen wir unserem Kind auch klar: "Vorerst wissen wir nur, dass es solange auf jeden Fall dauern wird. Danach sehen wir weiter. Aber ich verspreche dir, wenn wir durch den Tunnel durch sind, wird die Welt wieder normal. Und bis dahin und natürlich auch danach bin ich für dich da."