NZ-Kommentar

Neuer Koalitionsvertrag steht: Visionäre vor dem Realitätscheck

24.11.2021, 17:16 Uhr

© Kay Nietfeld, dpa

Nach alles in allem bemerkenswert disziplinierten zwei Monaten der Verhandlungen haben SPD, Grüne und FDP einen Koalitionsvertrag vorgelegt - ein Werk, das von einer gemeinsamen Vision zeugt, die über den schon jetzt absehbaren Widrigkeiten der Tagespolitik schweben soll. Und immer dann, wenn es hakt, wenn gestritten und gezürnt wird, als Mahnung dienen soll: der Klimaschutz.

Die neue Koalition begreift den Klimaschutz als Querschnittsaufgabe, der alle Ressorts betrifft. Das ist inhaltlich richtig, kann aber im Alltag für viel Moderationsbedarf sorgen. Beispiel: Kann eigentlich in Deutschland noch eine einzige neue Straße gebaut oder das vorhandene Fernstraßennetz ertüchtigt und ausgebaut werden, wenn es doch gilt, die CO2-Emissionen des Verkehrssektors zu senken?

Und wer setzt sich durch, wenn es - absehbar - durch das Reservieren von zwei Prozent der Landesfläche für den Bau von Windrädern (eine echte rhetorische Blendgranate, denn das wird das Landschaftsbild regional unterschiedlich, aber deutlich beeinflussen) zu Vor-Ort-Konflikten kommt zwischen Gegnern und Befürwortern solcher Anlagen, zwischen Natur- und Landschaftsschützern und den planenden Behörden?

Welche Akzente setzt Baerbock?

Da wird Robert Habeck, der das dafür geschaffene Wirtschafts- und Klimaministerium führen und den Titel des Vize-Kanzlers führen wird, ein gehöriges Maß an De-Eskalationstalent brauchen. Allerdings beherrscht Habeck die Übung, auch jene, die ihm skeptisch gegenüberstehen, philosophisch so einzuseifen, dass Widerstände bröckeln.

Mehr Fortschritt wagen - so lautet die Überschrift zum Koalitionsvertrag.

Mehr Fortschritt wagen - so lautet die Überschrift zum Koalitionsvertrag. © TOBIAS SCHWARZ, AFP

Nicht nur personell, sondern auch inhaltlich haben die Grünen ihren Eintritt in die Ampel-Koalition teuer erkauft. Habeck und Annalena Baerbock haben schnell erkannt, dass sich viel mehr an grünen Grundanliegen im Koalitionsvertrag unterbringen lässt, wenn sie FDP-Chef Christian Lindner das Finanzministerium überlassen. An Lindner liegt es nun maßgeblich, realistische finanzielle Szenarien für all die ehrgeizigen Klimaschutzpläne der Koalition zu entwerfen.

Kohleausstieg schon bis 2030 bei unverändertem Atomausstieg, viel stärkerer Ausbau der E-Mobilität mitsamt erforderlichem Ladenetz, Transformation der bisher vom Verbrenner abhängigen Autoindustrie, massiver Ausbau der Windenergienutzung nicht nur an Land, sondern auch auf der See - das kann nur mit massiver staatlicher Finanzierung und einer dadurch ausgelösten privaten Investitionsoffensive gelingen. So die Hoffnung.

Lindner darf - schon aus Prinzip - keine Bundeshaushalte aufsetzen, die gegen die im Grundgesetz fixierte Schuldenbremse verstoßen; im Gegenteil, er als liberaler Ordnungspolitiker muss sie bis aufs Blut verteidigen, auch auf europäischer Ebene und gegenüber der von Christine Lagarde geführten Europäischen Zentralbank. Regierungen, für die Schuldenmachen eine polit-olympische Sportart ist, gibt es in (Süd-)Europa schon genug.

Dort, wie auch in Osteuropa, in den USA und China wird man mit Spannung verfolgen, welche Akzente die künftige Außenministerin Annalena Baerbock setzen wird. Wurde Heiko Maas gerne als "Minister für Äußeres" verspottet, wird die Ehrgeiz versprühende Baerbock sicher nicht als weibliche Wiedergängerin von Maas gelten wollen. Wie wichtig ist ihr die transatlantische Verbindung ins Weiße Haus? Wie geht sie mit dem politischen Alphatier Wladimir Putin um, wie mit Chinas Staatschef Xi Jingping, der das Netz politisch und wirtschaftlich von seinem Land abhängiger Staaten Stück für Stück ausbaut?

Dass Baerbock "vom Völkerrecht herkommt" und bei Gipfeltreffen den größtmöglichen Kontrast zu den sonstigen Anwesenden darstellen wird, ist keine belastbare Grundlage für eine deutsche Außenpolitik im 21. Jahrhundert. Spannend wird auch zu beobachten sein, wie Baerbock auf der EU-Ebene ankommt, ob sie, was nicht nur aus aktuellen Gründen dringend geboten ist, die Länder mit einer EU-Außengrenze aktiv dabei unterstützt, den Migrationsdruck von außen wirksam zu begrenzen. Für eine Grüne könnte das schmerzhafte Begegnungen mit der Realität bedeuten.

Insgesamt haben sich die drei Koalitionäre eine ambitionierte Reform-Agenda aufgegeben. Das umlagefinanzierte Rentensystem soll sukzessive durch eine Kapitaldeckung am Anlagenmarkt ergänzt werden, die Ausgaben für Forschung und Entwicklung erhöht, der Mindestlohn deutlich angehoben, das Wahlalter auf 16 Jahre gesenkt und die Rechtsordnung der "gesellschaftlichen Realität" angepasst werden - das bringt teils deutliche Veränderungen des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Rahmens mit sich, der Deutschland prägt.

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