Polizist im Dienst verletzt: Ein Schlag, der sein Leben veränderte

18.7.2020, 05:55 Uhr
Bei einem Einsatz wurde der Polizist schwer verletzt. 

© Foto: Fredrik von Erichsen/dpa Bei einem Einsatz wurde der Polizist schwer verletzt. 

Der Schlag, der Polizeimeister Marc T. fast die Karriere gekostet hätte, traf ihn am 20. Juni 2019 um 2 Uhr: Eine Schlägerei im Nordwesten von Langwasser, ein 20-Jähriger randalierte – für Marc T. klang der Notruf, der damals in der Einsatzzentrale der Polizei einging, nach Routine.

Ein knappes Jahr später sitzt er bei seinem Rechtsanwalt Nils Junge. Der 24-Jährige hat eine Operation hinter sich gebracht, sechs hilflose Wochen durchlebt und ging ein halbes Jahr ständig zur Krankengymnastik. "Ich trug eine Schiene, konnte nicht einmal mehr meine Schuhe zubinden", schildert er. Der Mann, der ihn damals so schwer verletzte, wird nicht bestraft. Und Marc T. ahnt, dass er keinen Cent Schmerzensgeld sehen wird. Und doch ist er dankbar. Schließlich muss er nicht selbst den Dienst bei der Polizei quittieren.


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Aber von Anfang an: In jener Nacht stritt in Langwasser Olaf M. (Namen der Betroffenen geändert) lautstark mit seiner Freundin. Ein Nachbar eilte ihr zu Hilfe, auch der Vater der Freundin kam hinzu. Doch M. schlug zu, die Männer konnten ihn bändigen und riefen die Polizei.

Zwei Streifen der Polizeiinspektion Süd rückten aus. Häusliche Gewalt und Konflikte gehören im Streifendienst zum Alltag. Polizist zu sein sei für ihn nicht nur ein Beruf, sondern eine Berufung, sagt Marc T. – und auch weil über Polizisten als Täter derzeit wieder diskutiert wird, will er seine Geschichte in der Zeitung erzählen.

Hat die Polizei die Kontrolle über die Straße verloren oder entgleitet der Politik die Kontrolle über die Polizei? Anfang Juni starb in den USA George Floyd, ein Schwarzer, nach einem brutalen Polizeieinsatz. Sofort wurde gefragt, ob Rassismus und ungerechtfertigte Polizeigewalt auch in Deutschland festzustellen seien.

19 Beamte verletzt

Mitte Juni machte Polizeigewalt erneut Schlagzeilen – doch diesmal ging die Gewalt gegen Polizisten. Krawallmacher verwüsteten die Stuttgarter Innenstadt, schmissen Pflastersteine auf Polizeiautos, schlugen Schaufenster ein und plünderten Geschäfte. 24 Personen wurden festgenommen, 19 Beamte verletzt.


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Polizisten als Täter? Immer wieder müssen sich auch in Nürnberg Polizisten vor Gericht verantworten, weil sie übermäßig Gewalt angewendet haben. Doch immer wieder sind es auch Polizisten, die ihre eigenen Kollegen angezeigt haben, weil sie es nicht ertragen konnten, dass diese wie gewöhnliche Straßenkriminelle aufgetreten sind und andere schikanierten.

Die Polizei ist ein Spiegel der Gesellschaft. Deshalb gibt es dort pflichtbewusste – und fehlgeleitete Beamte. Eine Binsenweisheit, doch in jener Nacht wurde diese Erkenntnis für Marc T. zum spürbaren Teil der Realität. Bereits am nächsten Morgen wird er von seinen Kollegen erfahren, dass Olaf M., der Mann, der ihn schwer verletzt hat, selbst im Staatsdienst ist. Er arbeitet am Nürnberger Flughafen und steht im Dienst des Zolls.

T. glaubt an eine offene Gesellschaft, er will die öffentliche Sicherheit und Ordnung bewahren. Dafür hält er seine Knochen hin, doch nach dem Konflikt sucht er nicht, sagt er.

In jener Nacht waren er und seine Kollegin mit ihrem Wagen als erste vor Ort. Sie wollten nicht auf die zweite Streife warten, denn erst wenige Tage vorher hatten sie eine ähnliche Szenen erlebt, in diesem Fall ging es um ein versuchtes Tötungsdelikt.

Als die Polizisten die Wohnung betraten, stand Olaf M. nass und splitternackt im Raum. Er sah aus wie frisch geduscht, schildert Marc T. – doch später stellte sich heraus, dass der muskulöse Mann vollkommen nassgeschwitzt war. Er wähnte sich in einem Kampf zwischen Göttern und Aliens. "Ich bin Gott, ich bin Jesus", sagte er zu den Polizisten, lächelte und verpasste Marc T. eine Ohrfeige.

Er wollte die Wut nicht auf sich lenken, sagt Marc T., der Mann wirkte äußerst trainiert, widerstandslos festnehmen ließ er sich nicht. T. und seine Kollegin warteten auf Verstärkung. Doch gerade als die Beamten der zweiten Streife zur Wohnung hoch liefen, griff Olaf M. an, riss plötzlich massiv an T.s Arm und kugelte ihm die Schulter aus. Ein Oberarmknochen wurde verletzt, eine Gelenkkapsel riss.


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Der Polizeimeister konnte seinen Arm nicht mehr bewegen. Später fuhr ihn sein Chef nach Hause, und T. glaubte, dass er nach zwei Wochen Pause wieder dienstfähig wäre. Doch die Heilung verlief zäh. Und während ein Polizeiarzt untersuchte, ob Marc T. überhaupt noch tauglich für den Polizeidienst sei, ließ sich auch Olaf M. krankschreiben, kehrte nach einigen Wochen zum Zoll zurück und wurde wiedereingegliedert.

Erst am 24. Oktober sah ihn die Betriebsärztin nicht mehr als fähig an, pflichtgemäß mit einer Waffe umzugehen. Damit kein Missverständnis entsteht: Olaf M. hatte keine Dienstwaffe, und schon gar nicht trug er noch Wochen nach der Tat eine Waffe. Es ging vor allem darum, seine Zuverlässigkeit zu prüfen.

Beim Zoll will man sich zu dem Fall nicht äußern. Doch Martina Stumpf, Sprecherin des Hauptzollamtes, legt Wert auf die grundsätzliche Feststellung, dass nicht alle Mitarbeiter des Zolls eine Uniform und eine Waffe tragen. Auch Rechtsanwalt Martin Gelbricht spricht nicht über seinen Mandanten Olaf M. Im November schickte Olaf M. einen Entschuldigungsbrief an Marc T.; mittlerweile hat er den Zoll freiwillig verlassen, er will einen Handwerksberuf erlernen.

Nach seinem Angriff verbrachte Olaf M. die Nacht in der Psychiatrie. Weil er weder sich selbst gefährdete noch als gefährlich für andere galt und bereit war, eine ambulante Therapie zu machen, kam er am Morgen auf freien Fuß. Bei der Rechtspsychologin gab er zu Protokoll, dass er seit Jahren die verschiedensten Drogen konsumierte. Zuletzt habe er eine Woche vor der Tat Cannabis geraucht.

Anfang Juni 2020 blieb der Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth keine Wahl: Das Verfahren wurde eingestellt. Olaf M., so das Gutachten der Psychologin, litt zum Zeitpunkt der Tat unter einem akut paranoid-psychotischen Syndrom als Ausdruck einer drogeninduzierten Psychose.

Hohe Strafandrohung

Ein Staatsdiener im Drogenrausch, als regelmäßiger Konsument? "Wer sich vorsätzlich oder fahrlässig durch alkoholische Getränke oder andere berauschende Mittel in einen Rausch versetzt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft, wenn er in diesem Zustand eine rechtswidrige Tat begeht", so § 323a des Strafgesetzbuch.

Doch auch der strafbare Tatbestand des Vollrauschs sei nicht erfüllt, stellte die Staatsanwaltschaft fest. Olaf M. stand nicht unter Drogen, sondern erlitt eine Art Flashback – daher war er unfähig, das Unrecht seiner Tat einzusehen und sich zu steuern.

Das Strafverfahren ist vom Tisch. Ob er Schmerzensgeld zahlen muss, wird geprüft. Doch § 827 des Bürgerlichen Gesetzbuches hält fest, dass derjenige für den Schaden nicht verantwortlich ist, der diesen Schaden in einem Zustand krankhafter Störung angerichtet hat.

Werden in Bayern Beamte im Dienst durch einen tätlichen Angriff verletzt, können sie klagen – doch selbst ein erstrittener Titel auf Schmerzensgeld nutzt nichts, wenn der Schädiger mittellos ist. In diesen Fällen übernimmt der Freistaat als Dienstherr das Schmerzensgeld für seine Staatsdiener – doch diese "Erfüllungsübernahme" tritt nicht ein, wenn der Täter schuldunfähig ist.

Eine Lücke im Gesetz, meint Jurist Nils Junge. Freilich darf, wer schuldunfähig ist, nicht bestraft werden. Doch ist wirklich der Wille des Gesetzgebers, dass die Opfer auf ihrem Schaden sitzen bleiben? Offen ist auch, ob Marc T. trotz der erlittenen Verletzung seinen Traum vom Karrieresprung zum SEK schaffen wird. Und besonders schwer wiegt die Frage, ob all dies hätte verhindert werden können, wäre der Zustand von Olaf M. früher erkannt worden: Am Tag der Tat wurde Olaf M. von einem seiner Vorgesetzten nach Hause geschickt. Der Anlass: Er hatte von Aliens im Keller des Flughafens berichtet.

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