Streit um den Inzidenzwert: Ist nun die 35 die neue 50?

11.2.2021, 15:36 Uhr
Erklärte auf der jüngsten Pressekonferenz den entscheidenden Inzidenzwert von 35: Kanzlerin Angela Merkel.

© Shan Yuqi via www.imago-images.de, imago images/Xinhua Erklärte auf der jüngsten Pressekonferenz den entscheidenden Inzidenzwert von 35: Kanzlerin Angela Merkel.

Angela Merkel braucht niemanden, der sie verteidigt. Aber trotzdem sprang ihr bei der jüngsten Corona-Pressekonferenz der Berliner Regierende Bürgermeister Michael Müller ungefragt zur Seite. Es ging um den Inzidenzwert von 35. Die Kanzlerin hatte gerade ausführlich erklärt, wieso diese Inzidenz für die Lockerung des Corona-Lockdowns in den Mittelpunkt gerückt ist. Dann meldete sich Müller zu Wort. "Diese Zahl ist nicht aus der Luft gegriffen", betonte er. Damit griff er den entscheidenden Vorwurf auf, den viele an den Krisengipfel von Bund und Ländern richteten: Erst habe die Politik der Bevölkerung immer den Wert 50 als große Hoffnung vor die Nase gehalten. Nun sei er fast erreicht - und plötzlich solle die 35 der Maßstab sein.


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Tatsächlich dreht sich genau darum die meiste Kritik - zum Beispiel die von FDP-Vorsitzendem Christian Lindner. Die Regierung gefährde mit ihrem neuesten Schwenk das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger, sagte er im Deutschen Bundestag. Er selbst mag offensichtlich nicht mal an großzügige Lockerungen beim Erreichen einer 35er Inzidenz glauben: "Wir wissen, dass im Kanzleramt auch über die Zahl 10 schon gesprochen wird."

Was ist nun eigentlich dran an dem Vorwurf, Bund und Länder hätten ihren Kurs einfach so geändert? So leicht ist die Frage gar nicht zu beantworten. Tatsächlich war die Zahl 35 in den zurückliegenden Monaten in der Öffentlichkeit nicht ganz so präsent wie die 50. Letztere Zahl war in den meisten Landkreisen, Städten und Ländern der Grenzwert. Wenn es in einem Zeitraum von sieben Tagen pro 100.000 Einwohner so viele Neuinfektionen gab (oder mehr), dann wurden strengere Anti-Corona-Maßnahmen eingeleitet. Der Wert galt auch als entscheidend dafür, ob die Gesundheitsämter bei der Verfolgung von Infektionsketten noch nachkommen können.

Die 35 steht bereits im Infektionsschutzgesetz

Aber trotzdem war auch die 35 schon immer da. Sie steht im Infektionsschutzgesetz (Paragraf 28a), ist also gesetzlich verankert. Angela Merkel erinnerte in ihrer Pressekonferenz daran, dass die Zahl 35 als eine Art Vorwarnstufe auf dem Weg zum kritischen 50er Wert betrachtet worden sei. Gesundheitsämter mussten ab 35 an das zuständige Ministerium Meldung erstatten und die Gründe für das Ansteigen der Fallzahlen benennen. In einigen Bundesländern wie Bayern und Berlin wurde der niedrigere Wert schon seit langem als durchaus entscheidend bewertet.

Die Kritiker lassen sich von diesen Erklärungsversuchen nicht beeindrucken. Sie haben vor allem eine Sorge: Wenn erst einmal die 35 erreicht sein wird, dann senken die Regierenden die Richtzahl noch einmal herab. Das weisen die Angesprochenen weit von sich. "Die 35 steht", versprach Markus Söder bei einer Pressekonferenz in München.


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Als Hauptgrund dafür, warum nun sehr viel mehr Wert auf die niedrigere Zahl gelegt wird, gelten die neuen Mutationen des Corona-Virus, die weit ansteckender und damit gefährlicher sind. Der bayerische Ministerpräsident sprach davon, dass man mit der 35er Inzidenz einen sogenannten "Mutationspuffer" geschaffen habe, um die Gesundheitsämter nicht zu überlasten. Wie so vieles im Zusammenhang mit der Pandemie ist aber durchaus umstritten, ab wann die Nachverfolgung der Infektionsketten zu scheitern droht. Manche Landräte und Oberbürgermeister merken an, dass auch eine 100er Inzidenz noch zu bewältigen sei (allerdings bezogen auf die "normale" Variante des Virus).

Wird es schon Anfang März so weit sein?

Und wann könnte eigentlich die 35 erreicht werden? Angela Merkel wies darauf hin, dass zum Zeitpunkt des Corona-Gipfels immerhin schon 45 Landkreise in Deutschland so weit seien. Angesichts der in den vergangenen Wochen stark gesunkenen Inzidenz sei der Wert durchaus "in Reichweite". Der Gießener Virologe Friedemann Weber sieht es ähnlich. Er nennt Anfang März als Datum und sagt "Ich kann mir vorstellen, dass man bis dahin auf den Zielwert 35 kommt - wenn sich alle weiter an die verordneten Maßnahmen halten." Weber selbst ist "positiv überrascht" von den Regierungspolitikern, weil diese sich nicht mit dem (baldigen) Erreichen der 50er Grenze zufriedengegeben hätten.

Sollte es im März mit der 35er Inzidenz so weit sein, dann würde sich einiges ändern. Außerschulische Bildungsangeboten wie Musikschulen dürften vorsichtig öffnen, körpernahe Dienstleistungen über den Friseur hinaus wären erlaubt , im Einzelhandel wäre eine Person pro 20 Quadratmeter Ladenfläche erlaubt und auch die Gastronomie dürfte unter strengen Auflagen starten. Allerdings muss diese Inzidenz nach Auskunft der Kanzlerin "stabil" sein und davon könne man ab "mindestens drei Tage(n)" sprechen.

Beschwerden gegen die 35 gibt es nicht nur von denen, die lieber eine 50er Grenze hätten. Auch in die andere Richtung sind manche unzufrieden. Der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach hält zwar die jetzigen Beschlüsse zwar prinzipiell für richtig, würde aber gerne noch weiter nach unten gehen. Von ihm stammt der Satz "Die 25 ist die neue 50".

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