Student ermordet

Teile der Gesellschaft driften ab: Was uns Idar-Oberstein lehrt

22.9.2021, 14:38 Uhr
Ein Polizist am Tatort in Idar-Oberstein: An dieser Tankstelle hatte ein Maskengegner einen 20-jährigen Studenten erschossen.

© Christian Schulz/Foto Hosser/dpa Ein Polizist am Tatort in Idar-Oberstein: An dieser Tankstelle hatte ein Maskengegner einen 20-jährigen Studenten erschossen.

In drei Tagen wird gewählt in Deutschland, eine Sternstunde der Demokratie. Doch jene Demokratie, die uns so viele Freiheiten schenkt, ist zunehmend in Gefahr. Sie ist in Gefahr, wenn jemand Plakate mit „Hängt die Grünen!“ aufhängt und damit durchkommt. Sie ist in Gefahr, wenn der soziale Frieden aus dem Gleichgewicht gerät, die Kluft zwischen Arm und Reich wächst. Und sie ist in Gefahr, wenn der Staat zu wenig tut, um jene, die sich in ideologische Ecken verabschieden, wieder auf den Boden der Tatsachen und in die Mitte der Gesellschaft zurückzuholen.

Parallelwelt voller Verschwörungsmythen

Dazu gehören solche, die womöglich einen Anschlag auf die Synagoge in Hagen planten. Aber auch andere, die in einer vom Internet befeuerten Parallelwelt aus Verschwörungsmythen, Chatgruppen und Hetzern leben, von denen Coronaleugner und -skeptiker ihre kruden Ideen ableiten. Wohin das führen kann, war nun in Idar-Oberstein zu beobachten: Ein junger Student, der an einer Tankstelle jobbt, wird mit einem Kopfschuss getötet – weil er einen Kunden ans Tragen der Maske erinnert hat. Von all dem Hass im Netz hatte dieser sich offenbar radikalisieren lassen.

Nun tun manche diese Bluttat als tragischen Einzelfall ab. Tatsächlich markiert sie aber lediglich den traurigen Höhepunkt in einer Reihe von Übergriffen. Es gab Brandanschläge auf Impfzentren. Schaffner, Busfahrer, Kellner, Arzthelferinnen oder Mitarbeiter in Supermärkten, die auf die Maskenpflicht hinwiesen, wurden beschimpft und körperlich angegriffen. Journalisten, die über Impfgegner oder die Querdenker-Bewegung kritisch berichten, werden nicht selten eingeschüchtert.

All dies zeigt eine Spaltung der Gesellschaft, der die Politik erschreckend wenig entgegensetzt. Einer ließ unlängst sogar besonders wenig Sensibilität erkennen: der CDU-Kanzlerkandidat Armin Laschet. Als ein Anhänger der Querdenker-Bewegung bei einem Auftritt dessen Bühne stürmte, nutzte der Politiker diese Szene für einen Wahlwerbe-Spot, anstatt sich zu distanzieren.


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Fakt ist: Teile der Gesellschaft driften in eine gefährliche Nische ab. Sofern nichts unternommen wird, steuern wir auf amerikanische Verhältnisse zu. In den USA lehnt ein Gutteil der Bürger den Staat und dessen Institutionen offen ab. Das hat dazu geführt, dass dort ein narzisstischer Polarisierer wie Donald Trump, der öffentlich aberwitzige Verschwörungstheorien verbreitet, Präsident werden konnte.

Die Antwort ist einfach: Bildung, Bildung, und nochmals Bildung. Wer weiß, wie Infektionswege, ein Gemeinwesen, in dem die Starken mit den Schwachen solidarisch sind und eine erfolgreiche Demokratie funktionieren, wer also ein mündiger Bürger ist, der lässt sich von Hetzern nicht beeinflussen, sondern hält sich an Fakten. Die nächste Bundesregierung hat in diesem Bereich viel Arbeit vor sich, sofern sich an Terror erinnernde Attacken wie die von Idar-Oberstein nicht wiederholen sollen.

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