Seit 11 Uhr steht fest: Baerbock ist Kanzlerkandidatin der Grünen

19.4.2021, 09:17 Uhr
Wer von den Parteichefs Annalena Baerbock und Robert Habeck übernimmt die Kanzlerkandidatur bei der Bundestagswahl? Das entscheidet sich am Montagvormittag. 

© Kay Nietfeld, dpa Wer von den Parteichefs Annalena Baerbock und Robert Habeck übernimmt die Kanzlerkandidatur bei der Bundestagswahl? Das entscheidet sich am Montagvormittag. 


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Wenn es stimmt, was man sich in Berlin so erzählt, haben wir es nach wie vor mit einem großen Geheimnis zu tun. Dann wissen bis zur Entscheidung nicht einmal die Parteipromis der Grünen in Bund und Ländern Bescheid, wer denn nun Kanzlerkandidatin oder Kanzlerkandidat wird. Auch sie sollen erst kurz vor der Bekanntgabe am Montag um 11 Uhr erfahren, ob Annalena Baerbock oder Robert Habeck antritt.

Halten die beiden Hauptdarsteller in den letzten verbleibenden Stunden ihr Schweigegelübde weiterhin durch, so wäre ihnen ein strategisches Meisterstück gelungen. Es dürfte in der deutschen Nachkriegspolitik noch nicht allzu oft vorgekommen sein, dass eine nennenswerte Spitzenkandidatur so ganz ohne Streit, herablassende Kommentare und offenen Wettbewerb entschieden worden wäre.

Es geht längst nicht mehr nur um ein Spiel. Erstmals in der Geschichte der Partei ist die Kandidatur mit der Aussicht verbunden, im Oktober oder November wirklich ins Kanzleramt einziehen zu können. Baerbock (40) und Habeck (51) wollen das jeweils für sich unbedingt. Zumindest daran haben sie trotz aller Heimlichtuerei keine Zweifel gelassen.

Die grüne Gründergeneration rätselt

Wer die Ereignisse bei den Grünen und parallel dazu in der Union verfolgt, der kommt zu der Erkenntnis, dass beide die Rollen getauscht haben. All das, was man früher der grünen "Chaostruppe" unterstellte, ist heute bei CDU und CSU zu beobachten: ein gegenseitiges Herabsetzen, das Aufbieten zweier unversöhnlicher Lager, die Sprachlosigkeit untereinander, die dramatischen Auftritte vor den Augen der Öffentlichkeit, das Bild vom Sieger und vom Verlierer.

Manchen Altvorderen bei den Grünen ist das nicht ganz geheuer. Sie freuen sich zwar über die erstklassigen Umfragewerte, aber sie erkennen ihre eigene Partei nicht mehr. Die Vertreter der Gründergeneration fragen: Wo ist der Wettbewerb um die besseren Ideen? Wo sind die Kontroversen, von denen eine Demokratie ja schließlich auch lebt?

Im Moment erleben wir den maximalen Unterschied. Da gibt es die Union, in der sich die Lage von Tag zu Tag mehr zuspitzt und in der kommentarlos die selbst gesetzten Fristen (Einigung bis spätestens zum Ende der Woche) überschritten werden. Da gibt es die Grünen, die mit der Präzision einer Atomuhr auf den Zeitpunkt der Entscheidung zuschreiten. Die spannendste Frage wird sein, wie stark das alles die Wählerschaft beeindruckt. Hängt dem Kanzlerkandidaten Söder/Laschet bis zum 26. September nach, dass ihm vom jeweils anderen die Qualifikation abgestritten wurde? Oder gerät des in Vergessenheit? Umgekehrt: Können die Grünen dauerhaft von ihrer friedfertigen Kandidatenfindung profitieren?

Chef eines Superressorts

Wenn sich Habeck und Baerbock überhaupt gegeneinander hervortaten, dann geschah das auf der untersten Stufe der nach oben offenen Stichel-Skala. Habeck betonte auffallend oft seine Regierungserfahrung in Schleswig-Holstein, wo er sechs Jahre lang stellvertretender Ministerpräsident und Chef eines Superressorts für Energiewende, Landwirtschaft und Umwelt gwesen war. Baerbock, bisher ohne administratives Spitzenamt, merkte mal an, sie komme ja "eher aus dem Völkerrecht", während etwas von Hühnern, Schweinen und Kühen verstehe. Da musste der Konkurrent, der gerne über Philosophisches redet, dann doch etwas schlucken.

Gegen das Endspiel Söder/Laschet mit seinen Shakespear´schen Dimensionen ist das alles harmlos. Insbesondere dann, wenn es am Dienstag tatsächlich zu einer Kampfabstimmung der Unionsfraktion im Bundestag über die Kanzlerkandidatur kommen sollte. Das wäre dann exakt am Tag nach der Veranstaltung, bei der sich Robert seiner Parteifreundin Annalena untergeordnet und ihr die bestmögliche Unterstützung im Wahlkampf zugesagt hat. Oder die Annalena dem Robert, was als weniger wahrscheinlich gilt.

Zwei starke Persönlichkeiten, die gegeneinander antreten, können durchaus ein Vorteil für die jeweilige Partei sein. Dann allerdings braucht es aber wenigstens ein geordnetes Verfahren. So wie 1998, als Oskar Lafontaine und Gerhard Schröder die Kandidatur vom Ergebnis der niedersächsischen Landtagswahl abhängig machten. Oder so wie 2002, als Angela Merkel noch frühzeitig (im Januar) ihrem Konkurrenten Edmund Stoiber den Vortritt ließ. Ein solches Korsett fehlt bei der Union im Jahr 2021 völlig.

Baerbock bot von Anfang an Kontra

Warum klappt es eigentlich beim Duo Baerbock/Habeck so gut mit dem Burgfrieden? Das war nicht von Anfang an absehbar gewesen. Bei der Wahl zum Parteivorsitz galt der heute 51-Jährige als der kommende Stern der Grünen, der eben zur Komplettierung der Führungsspitze noch eine Frau neben sich benötige. Doch die heute 40-Jährige beging nie den Fehler, sich in dieses vermeintliche Schicksal zu fügen. Sie bot ihm vom ersten Moment an Kontra - und Habeck erwies sich als ein Mann, der damit umgehen konnte.

Ähnlich wie bei Laschet und Söder in der Union treffen bei den Grünen mit Habeck und Baerbock zwei Persönlichkeiten aufeinander, die nicht nur Vor- oder nur Nachteile haben. Der Philologe und Philosoph Habeck gilt als einer sehr gut ausgleichen und integrieren kann, auch über die Parteilager hinaus. Und als einer, der immer wieder mit sehr ungewöhnlichen Ideen überrascht. Die Politikwissenschaftlerin und Völkerrechtlerin Baerbock tritt meist konzentrierter und faktensicherer auf, weswegen sich bei ihr ein lange zurückliegender Fehler (Verwechslung von "Kobalt" und "Kobold") besonders einprägte.

Eine Schlüsselfrage in beiden Lagern könnte es deswegen vielleicht gar nicht so sehr sein, wer Kanzlerkandidat(in) wird, sondern welche Rolle die Person dahinter einnimmt. Bringt sie ihre eigenen Fähigkeiten mit ein (so wie das 1998 zumindest im Wahlkampf bei Schröder/Lafontaine der Fall war) oder wird sie als beleidigte Leberwurst wahrgenommen, vielleicht sogar als Gegenspieler? Die Grünen scheinen das von Anfang an bedacht zu haben.

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