Wohnungsnot betrifft immer mehr Bevölkerungsschichten

23.12.2017, 05:58 Uhr
Bei der Wohnungsbesichtigung ist kaum ein Interessent allein. Meist kommen 20 bis 30 Leute von denen manche schon jahrelang auf der Suche sind.

© Lukas Schulze/dpa Bei der Wohnungsbesichtigung ist kaum ein Interessent allein. Meist kommen 20 bis 30 Leute von denen manche schon jahrelang auf der Suche sind.

Der Aufzug ist stecken geblieben. Nach zehn Minuten kommt er doch noch im fünften Stock an. Zusammen mit drei Mietinteressenten steigt der Hausmeister aus. Er lacht. "Keine Ahnung, was los war." Der Mittfünfziger ist gut gelaunt. Vor der leeren Wohnung, die an diesem Nachmittag besichtigt werden kann, erwarten ihn nur noch vier andere Bewerber. "Normalerweise kommen 20 bis 30 Leute", sagt er. Es wird schnell gehen heute.

Zwei Zimmer, Küche, Bad. 52 Quadratmeter für 437 Euro Kaltmiete. Dazu 113 Euro Betriebskosten, Strom je nach Verbrauch, 1311 Euro Kaution. Die Wohnung ist in einem guten Zustand, sie braucht lediglich einen neuen Anstrich. Sie ist hell. Wenn man die Tür zum kleinen Balkon öffnet, dringt der Autolärm von der Hauptverkehrsstraße hoch in den fünften Stock.

Den Gästen des Besichtigungstermins wäre dieser kleine Nachteil egal. Alle melden Interesse an. Aber keiner blickt besonders hoffnungsvoll. Manche kennt der Hausmeister schon persönlich. "Warum klappt es denn bei Ihnen immer nicht?", fragt er eine junge Frau. "Ich weiß es nicht, wir bekommen nie eine Antwort", gibt die Gefragte mit leichtem osteuropäischen Akzent Auskunft. Seit zwei Jahren sucht sie für ihre Schwester, die mit ihrem zweijährigen Kind in einer Ein-Zimmer-Wohnung im vierten Stock eines Altbaus ohne Aufzug und ohne Badewanne lebt. Woche für Woche grasen die Schwestern die Wohnungsanzeigen ab. Zahllose Bewerbungen haben sie abgegeben - und nie wieder was gehört.

Not verdirbt die guten Sitten

"Schriftliche Ablehnungen gibt es nicht", sagt der Hausmeister, der für eine Wohnungsbaugesellschaft arbeitet. "Das schaffen die im Büro gar nicht." An der Entscheidung, wer die Wohnung am Ende bekommt, ist er selbst nie beteiligt. "Zum Glück. Sonst käme man am Ende nur in Verdacht, bestechlich zu sein." Entsprechende Angebote von mehr oder weniger verzweifelten Wohnungssuchenden gebe es immer wieder, verrät der Hausmeister. Die Not verdirbt die guten Sitten.

Zwei anerkannten syrischen Flüchtlingen hilft der Mann dann noch beim Ausfüllen des Bewerbungsformulars. Auch sie wird er vermutlich bald wiedersehen. Die anderen ziehen unterdessen schon weiter zum nächsten Besichtigungstermin. Zehn Gehminuten entfernt ist eine Zwei-Zimmer-Wohnung frei. 53 Quadratmeter, 475 Euro kalt, 125 Euro Nebenkosten. Unten vor dem Hauseingang warten im zugigen Westwind schon andere Interessenten.

Wohnungsnot ist zu einem der größten Probleme des Landes geworden. Und auch im Wohlfahrtsstaat dürfen Betroffene nicht auf schnelle Hilfe hoffen. "Wer kein Geld hat, kann zur Stadt gehen und bekommt was", sagt der Nürnberger Sozialamts-Chef Dieter Maly. "Wer keine Wohnung hat, der kann sich nur auf Wartelisten setzen lassen." Bei der Mehrzahl der herzergreifenden Zuschriften, die auf dem Schreibtisch seines Bruders, des Oberbürgermeisters Ulrich Maly, landen, geht es um das leidige Thema Wohnungssuche.

Klischees stimmen nicht mehr

Immer öfter bedeutet Wohnungsnot nicht nur, dass Menschen aus beengten Verhältnissen herauswollen, dass sie auf der Suche nach ein paar Quadratmetern mehr sind. Wohnungsnot heißt oft auch tatsächlich Wohnungslosigkeit. Auf 860.000 schätzt die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe die Zahl der Betroffenen bundesweit. Etwa die Hälfte davon seien anerkannte Flüchtlinge, die mangels Alternative meist weiter in Behelfsunterkünften ausharren müssen.

Wirklich auf der Straße leben nach Schätzung der Bundesarbeitgemeinschaft etwa 52.000 Menschen. Penner? Sandler? Im Leben gescheiterte Alkoholiker? Die alten Klischees stimmen schon lange nicht mehr. Karl-Heinz Hofmann hat Ende der 70er Jahre in Bayreuth Industriekaufmann gelernt. Neben dem Bürojob arbeitete er bald als Kellner. Weil ihm das schließlich mehr Spaß machte als sein eigentlicher Beruf, stieg er komplett um. Auf Volksfesten und Messen gab es gutes Geld zu verdienen.

Irgendwann - Hofmann war bereits nach Nürnberg umgezogen - machte die Gesundheit nicht mehr mit. Die Beine schmerzten, Sehnenscheidenentzündungen quälten ihn. Hofmann verlor mit Anfang 50 seinen Job. Dann ging zu allem Überfluss auch noch seine Beziehung in die Brüche. Er musste aus der gemeinsamen Wohnung ausziehen. 2014 war das. "Zwei Jahre lang habe ich mich so durchgeschlagen", erzählt der gepflegte und redegewandte 56-Jährige, der so gar nicht dem Klischee eines Wohnungslosen entspricht.

Wenn die Kraft fehlt

Was das für ein Durchschlagen war, verrät er nur auf Nachfrage. "Meistens habe ich auf öffentlichen Parkbänken geschlafen." Wenn die Sonne aufging, machte er sich auf seine tägliche ziellose Tour durch die Stadt, weil er nicht wollte, dass ihn Kinder auf ihrem Schulweg so sehen. Von den anderen Obdachlosen, von den Trinker-Treffpunkten hielt er sich konsequent fern. Auch in eine Notunterkunft oder Obdachlosen-Pension ging er nie. Von Passanten, die ihn nach einiger Zeit vom Sehen kannten, bekam er manchmal unaufgefordert Geld zugesteckt. Gebettelt, versichert er, habe er nie. "Ich wollte kein Penner sein, obwohl ich genau wusste, dass ich eigentlich nichts anderes war."

Im Winter, wenn es draußen zu kalt wurde, trieb sich Hofmann nachts meist im Hauptbahnhof herum. Wenn der Sicherheitsdienst nahte, machte er sich freiwillig aus dem Staub. "Ich habe da nie rumdiskutiert. Die hatten ja recht."

Karl-Heinz Hofmann hat sein bürgerliches Selbstverständnis auch in den zwei Jahren des Lebens auf der Straße nie aufgegeben. Nur um Hilfe bitten konnte er nicht. In der Familie nicht, weil ihn Stolz und Scham daran hinderten. "Ich war eigensinnig und wollte mir keine Vorwürfe anhören müssen." Und mit Behördenangelegenheiten hatte er schon in früheren Zeiten immer seine Schwierigkeiten. Auf einem Amt Unterstützung zu beantragen, dafür fehlte später regelrecht die Kraft. Das Leben auf der Straße ist purer Stress. "Im Kopf ist man da irgendwann kaputt."

Frage nach dem Job kommt schnell

Als Hofmann ohne Berechtigungsschein in der Nürnberger Wärmestube eines Tages kein kostenloses Essen mehr bekam, blieb ihm nichts anderes mehr übrig, als doch in der Beratungsstelle für Menschen in Wohnungsnot der Stadtmission Nürnberg vorbeizuschauen.

"Die haben gesagt: Wenn Sie möchten, können wir Ihnen schon helfen." Plötzlich konnte sich Hofmann aufraffen, die Bedingungen dafür zu erfüllen. Er beantragte einen neuen Ausweis, meldete sich beim Sozialamt und beim Jobcenter. Und ein paar Wochen später konnte ihm die Stadtmission eine ihrer angemieteten Übergangswohnungen anbieten. Die teilt er sich jetzt mit einem drei Jahren älteren Hilfsbedürftigen. "Das funktioniert prima."

In den Gebrauchtwarenläden der Stadtmission arbeitet Hofmann im Rahmen einer Maßnahme des Jobcenters für 1,25 Euro die Stunde. Sein Leben hat endlich wieder eine feste Struktur. Dass er zwei Jahre auf der Straße lebte, sieht man ihm nicht an. Aber die Suche nach einer eigenen Wohnung auf dem freien Markt war bisher trotzdem vergeblich. "Die Frage nach meinem Job kommt immer ganz schnell - und meistens ist die Antwort darauf dann das Ausschlusskriterium."

"Zum Leben blieben mir 145 Euro"

Auch Bruno Stangl kennt das. Der 52-Jährige hatte einst in seiner Oberpfälzer Heimat Werkzeugmacher gelernt. Vor langen Jahren kam er nach Nürnberg, weil seine Lebensgefährtin hier arbeitete. Er fand eine Stelle, lebte mit der Freundin und dem gemeinsamen Kind in einer kleinen Wohnung. In seiner Freizeit spielte er Gitarre in einer Band.

Dann ging die Beziehung auseinander. Stangl lernte eine andere Frau kennen, zog bei ihr ein. Mit seiner Gesundheit ging es bergab. Er leidet an einer Muskelerkrankung, außerdem plagten ihn immer stärkere Depressionen. Vor vier Jahren erlitt er unvermittelt einen Schlaganfall. Seither ist er gehbehindert, musste vorzeitig seine Rente beantragen. Von den mageren 645 Euro, die er bekommt, zahlte er die Hälfte der Miete an die Freundin. Ein zweiter fester Kostenfaktor war seine Krankenversicherung. "Zum Leben blieben mir 145 Euro."

Ein Betrag, der hinten und vorne nicht reichte. Der chronische Geldmangel wurde beherrschendes Thema in der Beziehung. Das tat ihr nicht gut, sie zerbrach. Am 1. Mai 2015 zog Stangl aus. Und stand auf der Straße.

Stadtmission verhilft zur Besserung

Ein Vierteljahr lebte der hagere Oberpfälzer bei der Heilsarmee. Ein Schritt, den viele scheuen, weil sie nicht mit fremden Menschen in einem Drei- oder Vierbettzimmer schlafen wollen. Stangl hätte nicht gewusst, wie er sich in seiner unguten Situation sonst hätte helfen sollen. "Ich war froh, dass es die Heilsarmee gab." Er konnte in der Unterkunft schlafen und essen. Von seiner Rente ließ man ihm 100 Euro Taschengeld. Die Suche nach einer eigenen Wohnung war freilich vergeblich.

Zu einer besseren Lösung verhalf auch ihm schließlich die Stadtmission. Stangl wohnt jetzt - ebenfalls übergangsweise - in einer Ein-Zimmer-Wohnung der Hilfsorganisation in Gostenhof. Hinter einem Vorhang im Wohnraum steht sein Bett. Davor ein Tisch, drei Stühle, ein kleines Sofa, Fernseher, Schrank, obendrauf seine Gitarre.

"Eine Zwei-Zimmer-Wohnung wäre besser", sagt der bescheidene 52-Jährige. 20- bis 30-mal, schätzt er, hat er sich schon um eine beworben. "Meistens hieß es, sie ist schon weg." Und außerdem würden meistens Preise verlangt, "da schlackerst mit den Ohren". Zwischen 400 und 500 Euro könnte er zahlen - inklusive Nebenkosten. Da ist so gut wie nichts im Angebot.

Und wenn doch, dann gehören Menschen wie Karl-Heinz Hofmann oder Bruno Stangl nicht zu den Favoriten der Vermieter. "Die suchen Leute, die wirtschaftlich stabil sind, die Bürgen haben und einen adretten Eindruck machen", sagt Thomas Heinze von der Stadtmissions-Beratungsstelle. Wohnungslose, ist seine Erfahrung, haben da in aller Regel keine Chance. "Wir haben Leute, die suchen seit fünf bis sechs Jahren." Der Markt reagiert auf seine Weise auf das Missverhältnis von Angebot und Nachfrage: Er produziert unanständig hohe Mieten. "Für möblierte Wohnungen werden oft 15 bis 20 Euro pro Quadratmeter verlangt", sagt Heinze. "Am Elend der Leute wird gut verdient."

Viele Fehler im Leben gemacht

Natürlich gehören zum Thema Wohnungslosigkeit auch Geschichten von Menschen, die es frühzeitig aus der bürgerlichen Normalität hinauskatapultiert hat. Weil sie viele Fehler gemacht haben in ihrem Leben. Aber auch, weil sie ein paar Chancen weniger hatten als andere. Roland T. beispielsweise wuchs in einer Familie auf, die in den 60er und 70er Jahren in Gostenhof eine Kneipe betrieb.

Aber sein eigentliches "Wohnzimmer", sagt er, war die damals noch verrufene Luitpoldstraße. Jugendgang, Schlägereien, Straßenraub, erster Knastaufenthalt, Drogen, Diebstähle, Einbrüche, weitere Haftstrafen. So lässt sich ein Teil der bewegten Lebensgeschichte des heute 53-Jährigen stichpunktartig nacherzählen.

Seit 17 Jahren geriet der Mann mit der von einem Stirnband gebändigten Langhaarfrisur nicht mehr mit dem Gesetz in Konflikt. Darauf ist er stolz, nicht auf sein wildes Leben davor, das ihn ruhelos von hier nach dort getrieben hatte. Vor vier Jahren kehrte er zurück nach Nürnberg, besorgte für seine demente Mutter einen Pflegeheimplatz - und hatte selbst kein Dach über dem Kopf. Eine Zeit lang lebte er in einem selbst gebauten Unterstand im Wald. "Ich lag nachts in meinem Erdloch wie Sie zu Hause in Ihrer Badewanne." Dann suchte er in Notunterkünften Unterschlupf. Die Stadtmission verhalf ihm schließlich zu einem Zimmer. "Für mich ist das ein Palast, aber ich weiß nicht, wie lang ich da bleiben kann."

Derzeit arbeitet Roland T. als Ein-Euro-Jobber im Tiergarten. Er ist auf der Suche nach Arbeit und nach einer kleinen Wohnung. Aus dem ehemals wilden Kerl ist ein erstaunlich demütiger Mann geworden. "Ich wollte nie jemandem zur Last fallen. Aber es geht nicht ohne Hilfe."

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