Weisen Sie beim Arzt auf dieses Superorgan hin

Leiden Sie unter Dauerschmerzen? Das könnte die Ursache sein

Melanie Scheuering

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24.2.2022, 16:45 Uhr
Leiden Sie unter Dauerschmerzen? Das könnte die Ursache sein

© Ljupco Smokovski - stock.adobe.com

Fühlen Sie sich oft verspannt? Leiden Sie unter Rückenschmerzen? Sie befinden sich in trauriger Gesellschaft: Fast ein Drittel der Erwachsenen in Deutschland leidet häufig oder sogar ständig darunter. Bei vielen Betroffenen bleibt die Ursache unklar, obwohl sie einen Arzt nach dem anderen aufsuchen. Inzwischen glauben immer mehr Experten, dass ein Großteil unserer körperlichen Funktionsstörungen mit den Faszien zusammenhängt – auch und besonders Beschwerden des Bewegungsapparats.

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© myofaszial.eu

Die Zeiten scheinen vorbei, als sich hauptsächlich Osteopathen und Heilpraktiker mit den Faszien befassten und viele Schulmediziner das Thema ignorierten. "Alles, was du spürst, ist faszial", sagt der Allgemeinarzt Dr. Rolf Eichinger aus Hilpoltstein, der sich seit Jahren intensiv mit dem Thema auseinandersetzt und dazu auch ein Buch geschrieben hat.

Die Faszien bilden als Teil des Bindegewebes die Hülle, die Muskeln und Organe vor Verletzungen schützt und in Form und an ihrem Platz im Körper hält. Ohne die Faszien würden wir quasi auseinanderfallen. Das bandförmige fasziale Gewebe (fascia ist lateinisch und bedeutet Band, Bandage) ist zwischen 0,5 und 3 Millimeter dick und sehr reißfest. Es besteht unter anderem aus Kollagenfasern und Wasser und sorgt sowohl für Stabilität als auch für Elastizität. Wie auf Gleitschienen können sich Muskelstränge und Organe verschieben, wenn wir uns bewegen. Über die Faszien, die Lymphflüssigkeit enthalten und von Blutgefäßen und Millionen Nerven durchzogen sind, gelangen Informationen über Bewegung oder Schmerzen ins Gehirn. Als zentrales Organ der Körperwahrnehmung interagieren die Faszien auch mit Immunsystem und Psyche.

Gesunde Faszien liegen geordnet und entspannt – und funktionieren unmerklich. Bei Stress, zu wenig Bewegung oder falscher bzw. zu intensiver Belastung können sich Faszien verdrehen, verkleben oder verhärten. Eine Folge ist eingeschränkte Beweglichkeit. Zudem wird eine Schmerzkette ausgelöst, deren Ursache an ganz anderer Stelle liegen kann als die spürbare Verspannung.

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Pionierin der Faszienforschung ist die amerikanerische Biochemikerin Ida Rolf, deren Therapieansatz aus den 1950er Jahren als Strukturelle Integration oder auch Rolfing bekannt ist. Dabei soll der Körper durch Druck auf die faszialen Strukturen aufgerichtet werden und ins Lot kommen. Für die deutschen gesetzlichen sowie die österreichischen Krankenkassen reicht die Studienlage zur Wirksamkeit des Rolfings nicht aus, um die Therapiekosten zu übernehmen; in der Schweiz bezahlen einige Kassen die Behandlung.

Um die Bedeutung der Faszien wissenschaftlich zu untermauern, betreibt der Humanbiologe und Psychologe Robert Schleip seit 15 Jahren intensive wissenschaftliche Faszienforschung unter anderem an der Technischen Universität München sowie an der Universität Ulm. Zuvor war er 30 Jahre lang als Faszien- und Bewegungstherapeut tätig. Schleip war Mitinitiator des ersten internationalen Faszien-Kongresses 2007 an der Harvard Medical School in Boston und gilt als international anerkannter Faszien-Experte.

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"Die Faszien sind sehr wesentlich beteiligt an vielen körperlichen Problemen. Klarstes Beispiel ist der Muskelkater", sagt Schleip und verweist auf dänische Studien, wonach die Hauptquelle des Schmerzes nicht, wie lange angenommen, in den Muskeln liege, sondern in der faszialen Muskelhülle. Dr. Jan Wilke, Sportwissenschaftler an der Goethe-Universität Frankfurt, hat nachgewiesen, dass bei Muskelkater die Faszienhülle angeschwollen ist. "Daher", folgert Schleip, "müsste man den Muskelkater in 'Faszienkater' umbenennen."

Einige Forscher schließen aus den Erkenntnissen, dass damit der Rat, sich bei Muskelkater Ruhe zu gönnen, überholt ist. Leichte Bewegung sei das Mittel der Wahl. So könne die natürliche Geschmeidigkeit wiederhergestellt werden.

Die moderne Diagnostik ermöglicht es heute, Störungen des myofaszialen Systems ("myo" ist griechisch und bezeichnet eine Beziehung zum Muskel) objektiv darzustellen. In der Zeitschrift für Physiotherapie nennt Schleip zusammen mit zwei Co-Autoren geeignete Methoden. Die bekannteste ist der hochauflösende Ultraschall. "Damit lässt sich zum Beispiel erkennen, dass bei Rückenschmerzen oft die ersten zwei derben Faszienschichten im unteren Rücken miteinander verbacken sind", berichtet Schleip. "Das kann man mit einfacher mechanischer Stimulation wieder lösen."

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Physiotherapeut Sebastian Gerner, der in einer Praxis im Nürnberger Norden arbeitet, möchte einen Schritt weitergehen. "Unser Körper ist ein komplexes Konstrukt. Eine rein mechanistische Behandlung, zum Beispiel mit einer Faszienrolle, greift zu kurz", sagt er. Zwar erreiche man so eine Bewegungserweiterung, doch das sei wohl weniger darauf zurückzuführen, dass die Faszie ihre Struktur verändere, als vielmehr darauf, dass das Gehirn den Schmerz hemme und eine Anpassungsreaktion erfolge. "Schmerzen haben immer biologische, psychlogische und soziale Aspekte", sagt Gerner. "Alles muss berücksichtigt werden."

Auch Eichinger und seiner Lebenspartnerin, Physiotherapeutin Kerstin Klink, ist das wichtig. "Der Schmerz ist das Opfer", sagt Klink. "Wir suchen aber den Täter, also die Ursache." Und die, ergänzt Eichinger, "ist selten dort, wo die Probleme sich äußern."
Er nennt Beispiele von Patienten, deren Beschwerden nicht über Labor oder Bildgebung einer Organerkrankung zugeordnet werden können. "Zahlreiche dieser Störungen wie Schmerzen, Schwindel, Tinnitus oder Fersensporn kommen aus dem myofaszialen Organ" – und können aufgrund von Schmerzketten über die Faszien zurückverfolgt werden. "Da könnten Unsummen an kosequenzloser Diagnostik eingespart werden", sagt Eichinger "Von sinnlosen Therapien ganz zu schweigen."

Die Ausbildung in Faszientherapie ist nicht geschützt, daher sind die Standards unterschiedlich. "Das Fasziale Organ ist so wichtig, dass man es in die Lehrpläne von Medizinstudenten und Physiotherapieschülern aufnehmen sollte", fordert Eichinger. Beim Verband der Physiotherapeuten ist man aufgeschlossen. "Wenn der Gesamtzusammenhang gewährleistet ist, halte ich das für sinnvoll", sagt der Vorsitzende des Landesverbands Bayern, Markus Norys. "Dadurch, dass innerhalb der Faszie bestimmte Nerven gereizt werden, hat eine Bindegewebsmassage positiven Einfluss auf die inneren Organe. Es ist also eine effektive Therapie."

Eine Sitzung kostet 80 bis 120 Euro; private Zusatzversicherungen zahlen zumindest teilweise, gesetzliche Kassen (noch) nicht.

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