Über 10.000 Substanzen nachweisbar

Abwasser als Corona-Frühwarnsystem? Fränkischer Experte klärt auf

4.8.2021, 06:00 Uhr
Könnte man das Coronavirus im Abwasser nachweisen, bevor es, wie auf dem Foto, in der Kläranlage landet und gereinigt wird?

© imago images/Rupert Oberhäuser, NN Könnte man das Coronavirus im Abwasser nachweisen, bevor es, wie auf dem Foto, in der Kläranlage landet und gereinigt wird?

Abwässer verraten, was die Menschen gegessen, überhaupt konsumiert haben, vielleicht auch an Medikamenten und Drogen – kann man sagen, dass sie so etwas wie ein Spiegel der Gesellschaft sind, Herr Sörgel?

Ja, auf jeden Fall. Praktisch alle Stoffe, seien sie körpereigene oder Fremdstoff, werden über den Stuhl oder Urin ausgeschieden und landen im Abwasser.

Aber es ist eindeutig zuordenbar, um welchen Stoff es sich handelt?

Wenn man eine Abwasserprobe nimmt, sind da natürlich Tausende von Stoffen drin, aus allen möglichen Bereichen, auch aus Pflanzen, nicht nur vom Menschen oder Tier kommend. An die analytischen Methoden müssen da schon hohe Anforderungen gestellt werden.

Wenn ich Sie richtig verstehe, muss man gezielt suchen?

Ja. Normalerweise muss man eine Vorstellung haben, was man sucht, ähnlich wie beim Drogen- oder Dopingtesten. Aber es gibt zunehmend Technologien mit deren Hilfe man auch, ohne zu wissen, was man sucht, Überraschendes findet. Das soll natürlich nicht heißen, dass man planlos vorgeht. Wenn ich Wasser untersuche aus einem gewissen Gebiet in einer Stadt und wissen möchte, was dort eigentlich passiert – oft geht es dabei um Drogen –, dann suche ich natürlich auch nach Substanzen, die ich gar nicht kenne, wo ich die Hoffnung habe, dass die moderne Technologie einen Hinweis gibt, dass ein nicht zu erwartender Stoff vorhanden ist.

Sie sind aktuell auf diesem Sektor tätig?

Wir untersuchen das Verhalten der Bevölkerung unter Pandemiebedingungen. Das Virus selbst ist für uns kein Thema, denn da muss man Techniken anwenden, die zu viel Zeit in Anspruch nehmen, das können wir zeitlich nicht machen. Man kann die Zunahme des Virus im Abwasser messen, aber das ist äußerst schwierig, weil die Mengen des Virus enorm gering sind und das Virus neben mehr als 10.000 Substanzen gemessen werden muss.

Aber man kann das Coronavirus im Abwasser nachweisen?

Man kann es nachweisen. Es ist aber enorm schwierig. Abwasser ist ja enorm verdünnt. Man muss versuchen, aus diesen Riesenmengen Abwasser, so ein kleines chemisches Teilchen wie ein Virus nachzuweisen. Da gibt es Methoden, dass es rausfiltriert wird. Ich sehe derzeit keine Daten, die belegen, dass zwischen der Menge an Virus, die man im Abwasser findet, und den Inzidenzen eine Korrelation besteht. Das sage ich jetzt aber nicht abwertend, sondern es ist ja ein ganz normaler Vorgang in der Wissenschaft: Wenn ich eine Methode neu entwickle, die einen bestimmten Zweck erfüllen soll, dann muss ich sie natürlich validieren.

Forscherkollegen haben berichtet, dass man mit der Untersuchung von Abwässern auf das Coronavirus mehrere Tage Zeit gewinnen kann, weil diese Ergebnisse deutlich schneller vorliegen als die von PCR-Tests Infizierter ...

Wenn das Ganze perfektioniert ist, kann man Zeit gewinnen – aber das muss schon ein erheblicher Zeitgewinn sein, denn sonst ist die Realität schneller. Wenn ein Kollege von bis zu fünf bis sieben Tagen spricht, wenn er das schafft, ist er gut aufgestellt.

Wären Abwasseruntersuchungen auf Corona als Frühwarnsystem tauglich, oder ist der Aufwand zu groß?

Das möchte ich nicht sagen. Es ist immer die Frage, wie viel Geld bereitgestellt wird. Wenn man ein perfektes Labor für das Thema aufbaut, kann man das schon machen. Nur muss das ja an verschiedenen Plätzen der Fall sein, man muss es praktisch in allen Großstädten aufstellen. Aber wo fängt man an? Und der Aufwand ist natürlich gigantisch, und es erfordert einiges an Knowhow – aber wenn der Staat bereit ist, das zu machen, dann ginge es. Einige Forschergruppenarbeiten daran.

Könnte man sich vorstellen, dass solche Messungen auch die anderen Methoden ergänzen, wie den etwas in die Kritik geratenen Inzidenzwert oder Infektionszahlen?

Da ist es noch weit hin, aber natürlich sollte die Technik parallel aufgebaut werden.

Die Beantragung von Mitteln für solche Projekte ist ebenfalls aufwendig und wird oft abgelehnt ...

Wir hatten eine ähnliche Situation 2002, als wir ins bayerische Innenministerium zu Minister Beckstein eingeladen waren. Damals ging es um Bio-Terrorismus. Um das Thema hat sich damals mit Blick auf Abwässer niemand gekümmert. Wir haben unsere Forschung vorgestellt, Beckstein war sehr angetan, aber ein paar Tage später hat ein Baurat, seines Zeichen Physiker, geschrieben, das gehe nicht, so empfindlich könne man nicht messen. Natürlich ging es, aber ich wollte nicht den mühsamen Weg eines Antrags gehen, denn solche Anträge sind wirklich aufwendig. Wenn man von seiner Sache überzeugt ist und dann eine Ablehnung von jemandem, der nicht der Fachmann auf dem Gebiet ist, dann ärgert das einen schon.

Sie haben dann drei Jahre später Kokain in Flüssen nachgewiesen, wie zuvor schon im Reichstag, nachdem Sat1 Sie mit der Untersuchung beauftragt hatte?

Damals ist die Frage erstmals so richtig aufgekommen, mit welchen Methoden man versuchen kann herauszufinden, wo Drogen zu finden sind. Man war überrascht, dass man Kokain so fast ubiquitär finden kann, heute überrascht das niemanden mehr. Kokain ist ein Stoff, der fast überall verbreitet ist, auf Geldscheinen ebenso wie auf Fahrkartenautomaten. Kokain hat chemisch die Eigenschaft, dass es sich lange an viele Oberflächen bindet. Da Kokain über Jahrzehnte in erheblichen Mengen im Umlauf ist, findet man es auch an allen möglichen Stellen. Es ist schwierig, Stellen zu finden, wo es kein Kokain gibt.

Angesichts der Flutunglücke und Corona fragt man sich, ob in Deutschland erst reagiert wird, wenn der Schadensfall eingetreten ist – obwohl seit Jahren Pandemiepläne oder Präventionsmaßnahmen wie im Falle des Starkregens in den Schubladen liegen. Lässt sich das auch auf Corona übertragen, dass man das mit einem Vorlauf messen könnte?

Kein Land der Erde war auf so eine Pandemie wirklich vorbereitet, und welcher Weg sich als der richtige erwiesen haben wird, das kann man heute noch genauso wenig sagen. Die Inzidenzzahlen werden weiter wichtig bleiben, aber es werden viele zusätzliche Zahlen in die Beherrschung der Pandemie eingehen. Dazu kann in Zukunft auch die Messung des Virus im Abwasser zählen. Bevor dieser Parameter aber wirklich wichtig wird, fließt noch viel Wasser die Pegnitz hinunter.

Das ist nicht so einfach, einen neuen Wert einzuschätzen, denn da spielen viele Faktoren herein: in dem Fall, wie viel hat es geregnet, welche Fabriken gibt es in der Nähe, die bestimmte Chemikalien entlassen, oder Krankenhäuser, die auch andere Krankheitskeime entlassen. Man darf aber nicht vergessen, wir leben erst 14, 15 Monate in der Pandemie – das muss alles erst ganz sauber bewiesen werden, dann könnte es eine echte Perspektive sein.

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