Angst vor Technik-Versagen: Bayern im Distanzunterricht-Dilemma

15.12.2020, 12:48 Uhr
Über die Lernplattform Mebis soll der digitale Unterricht organisiert werden. Doch hält sie der Last Hunderttausender Schüler stand? 

© Stefan Puchner/dpa Über die Lernplattform Mebis soll der digitale Unterricht organisiert werden. Doch hält sie der Last Hunderttausender Schüler stand? 

Es ist zum Verzweifeln, sagt eine Mutter aus dem Nürnberger Land. Seit Monaten hat sie sich auf den Ernstfall vorbereitet. Wie Zehntausende anderer Eltern in Bayern. "Unsere Lehrerin richtete schon im Oktober einen Microsoft-Teams-Zugang für jeden ihrer Schüler ein", erklärt die Mutter eines Sechsjährigen. An einem Samstag fanden virtuelle Probetreffen statt, Laptops und Tablets wurden angeschafft, die Infrastruktur aufgebaut. Zumindest dort, wo es möglich war. Die Schulen sollen möglichst geöffnet bleiben, trotz steigender Corona-Infektionszahlen, wiederholte das Kultusministerium immer wieder. Inzwischen, sagt Ministerpräsident Markus Söder, sei die Situation "außer Kontrolle" - und der Präsenzunterricht wird eingestellt. Doch Distanzunterricht soll es nicht geben. Zumindest nicht verpflichtend in ganz Bayern.

Der Teufel liegt, wie so häufig, im Detail. Man setze, das sagte Kultusminister Michael Piazolo, am Montag gleich mehrfach auf "Distanzlernen". Konkret bedeutet das: "Die Lehrkräfte stellen für die unterrichtsfreien Tage Materialien zum Üben, Vertiefen und Wiederholen zur Verfügung", wie es in einem Schreiben an die Schulen im Freistaat heißt. Distanzunterricht über Videokonferenzen werde es aber nur in wenigen Jahrgangsstufen, etwa in den Abschlussklassen und an den Berufsschulen, geben.

"Teilweise katastrophales Krisenmanagement"

Der Unmut ist gewaltig - bei Lehrern, Schulen und Verbänden. "Große Vorwürfe muss man den Landesregierungen und den Schulministerien für ihr teilweise katastrophales Krisenmanagement im Umgang mit der Pandemie (...) machen", sagte etwa Heinz-Peter Meidinger der Passauer Neuen Presse (PNP). Seit Jahren werde das Tempo der Digitalisierung verschleppt, häufig fehlt es etwa an schnellem Internet oder technischen Geräten. "Das rächt sich jetzt", sagt der Präsident des Lehrerverbandes. "Wir brauchen ganz dringend ein klares Konzept für den Umgang der Schulen mit der Pandemie auch nach dem 10. Januar 2021."

Darf der Distanzunterricht auch außerhalb der Abschlussklassen weiter stattfinden? Die Verunsicherung ist groß, Medien berichteten von einem vermeintlichen Verbot. Das Ministerium stellte am Dienstag klar: Distanzunterricht bleibt weiter möglich, ist eben aber nicht verpflichtend für die Schüler. "Auch, um in der besonderen Lage kurz vor Weihnachten etwas Druck von allen Beteiligten zu nehmen", wie es in einer Pressemitteilung heißt. "Damit fallen mündliche Leistungsnachweise in diesen Klassen vor Weihnachten weg."

"Spannend, wie pflichtbewusst die Kinder sein werden"

Für Irritationen sorgte der Beschluss aus München aber dennoch. "Fassungslos und ungläubig mussten wir gestern die Mitteilung des bayerischen Kultusministeriums zur Kenntnis nehmen", schreibt etwa die Hans-Böckler-Real- und Wirtschaftsschule in Fürth in einem Brief an ihre Eltern. Dort aber soll der Distanzunterricht weitergeführt werden - und das bis Freitag. "Diese Entscheidung ist mit dem Bürgermeister, dem Elternbeirat und dem Personalrat besprochen und beschlossen worden", heißt es in einer Rundmail, die unserer Redaktion vorliegt. "Sie können sich darauf verlassen, dass Ihr Kind stundenplanmäßigen Unterricht erhalten wird."

"Wenn ich Schüler wäre, dann würde ich das als freiwilliges Angebot ansehen", sagt Rudolf Kleinöder, Leiter des Rother Gymnasiums. Dort werden die Videokonferenzen, die bereits bis kurz vor die Ferien geplant sind, trotz des Ministeriumsbeschlusses weitergeführt. "Von unserer Seite aus wird sich wenig ändern." Aber: Ob auch die Schüler in das digitale Klassenzimmer kommen, das sei unklar. "Das wird spannend sein zu sehen, wie pflichtbewusst die Kinder sind." Einfordern könne man die Mitarbeit nach den Aussagen aus München nicht, betont Kleinöder. Alles basiert auf Freiwilligkeit. Dass viele genau das als Schlupfloch sehen, ist zu befürchten.

"Wir haben doch einen Kopf zum Denken"

Auch Schulen im Corona-Hotspot Nürnberg setzen weiter auf Distanzunterricht. Wegen der hohen Fallzahlen hatten viele Gymnasien, Real- und Mittelschulen die Präsenzpflicht ohnehin ausgesetzt - der digitale Unterricht läuft bereits. "Wir haben doch einen Kopf zum Denken", sagt Reiner Geißdörfer vom Dürer-Gymnasium. Es wäre völlig unsinnig, nun in einen "anderen Modus zu verfallen als den, den wir wochenlang vorbereitet haben".

Man werde in allen Klassen ganz normalen Distanzunterricht umsetzen. "Ich vermute, dass die Aussagen getroffen wurden, weil der Minister für ganz Bayern sprechen muss“, sagt Schulleiter Geißdörfer. "Es gibt unter Umständen nicht überall die gleichen Möglichkeiten, was die technischen Voraussetzungen angeht."

Auch das Pirckheimer Gymnasium hat gute Erfahrungen mit dem Distanzunterricht gemacht. "Ich persönlich hätte es begrüßt, wenn eine Pflicht für alle gegolten hätte", sagt Schulleiter Benedikt Mehl. Seit Monaten habe man sich vorbereitet, die Technik sei vorhanden, die Schüler mit den Systemen vertraut. "Ich hätte es für sinnvoll gehalten, das bis Freitag oder sogar Dienstag zu machen." Offenbar, so Mehl, habe die Staatsregierung wegen der Dynamik der Pandemie-Situation so reagiert. "Wir werden den Distanzunterricht aber auf freiwilliger Basis versuchen.“

Brandbrief: "Kinder laufen Gefahr, vollends abgehängt zu werden"

Es knarzt in Bayerns Schulen. Seit Jahren warnen Experten vor steinzeitlichen Verhältnissen im Freistaat. Noch im November schrieb etwa die Landes-Eltern-Vereinigung der Gymnasien einen Brandbrief an Minister Michael Piazolo. "Kinder laufen Gefahr, vollends abgehängt zu werden", heißt es dort. Es herrsche digitales Chaos.

"Es gibt Schulen, die bis zu sieben, acht digitale Kanäle bespielen", so die Landes-Eltern-Vereinigung. "Nach wie vor fehlt den Schulen der technische Support, wenn IT-Probleme auftauchen." Die über 100.000 Lehrer im Freistaat erstellen zudem ihre Inhalte für den Digital-Unterricht individuell. Eine gewaltige Ressourcenverschwendung, so der Elternverband.

Auch Florian Kohl von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft in Bayern (GEW) sieht in der Nicht-Pflicht zum Digitalunterricht eine verpasste Chance. "Die Dinge, die sich in den letzten Monaten hätten weiterentwickeln müssen, haben sich nicht entwickelt.“ Noch immer fehle es an Leihgeräten, die Schüler sind häufig nicht vertraut mit der Technik. "Beim Kultusministerium hat wohl die Angst mitgespielt, dass es in der Breite schief geht."

In der vergangenen Woche kapitulierte etwa erneut Mebis, die Lernplattform, über die das digitale Klassenzimmer organisiert werden soll. Dort können Lehrer ihren Schülern Aufgaben zuteilen und über Chats kommunizieren. Ob das Portal dann, wenn alle Schulen gleichzeitig darauf zugreifen wollen, der Last standgehalten hätte, ist unklar. Immer wieder sorgt Mebis für Negativ-Schlagzeilen. Nürnberger Hacker entdeckten Sicherheitslücken in dem System.

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