Ärzte warnen: Herzinfarkt-Patienten kommen zu spät ins Krankenhaus

18.12.2020, 05:45 Uhr
Brustschmerzen, Unwohlsein, vielleicht auch Luftnot und Übelkeit - das sind typische Symptome eines Herzinfarkts. Im Zweifel sollten Betroffene sofort den Notruf 112 wählen.

© Africa Studio/shutterstock.com Brustschmerzen, Unwohlsein, vielleicht auch Luftnot und Übelkeit - das sind typische Symptome eines Herzinfarkts. Im Zweifel sollten Betroffene sofort den Notruf 112 wählen.

Kardiologische Kliniken haben erneut Anlass zur Sorge: In der Corona-Welle scheuen offenbar wieder mehr Menschen mit einem akuten Herzinfarkt die Notfallbehandlung.

Gerade erst hat Dr. Harald Rittger wieder so einen Fall erlebt. Ein Mann im mittleren Alter, er hatte klassische Brustschmerzen. Anstatt sich ärztliche Hilfe zu suchen, blieb er zwei Tage daheim, bis er die Sanitäter rief. Herzinfarkt.

Schwere Herzschwäche bleibt

"Wir konnten die Arterie im Herzkatheterlabor wieder öffnen", sagt Rittger, Chefarzt der Kardiologie am Klinikum Fürth. "Aber sein Herz wird eine schwere Pumpschwäche behalten, weil er so spät kam." Sein Zögern habe der Mann damit erklärt, dass er sich vor dem Kontakt mit Covid-19-Kranken geängstigt habe.


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Diese Begründung hören der Fürther Herzspezialist und seine Kollegen in der Region in diesem Spätherbst regelmäßig. Entweder aus Angst vor Ansteckung oder wegen Bedenken, ein Bett zu blockieren, verdrängen viele Herzpatienten während der Corona-Pandemie offenbar ihre Beschwerden. Jedenfalls halten sich die Falschen beim Gang ins Krankenhaus zurück.

"Zeit ist Muskel"

Symptome aussitzen zu wollen, ist zwar bei keiner Krankheit eine gute Idee – bei den Herz-Kreislauf-Erkrankungen, der häufigsten Todesursache in Deutschland, aber besonders fahrlässig. "Zeit ist Muskel" heißt beim akuten Infarkt die Devise. In den ärztlichen Leitlinien gilt die 120-Minuten-Grenze: Wenn ein verstopftes Herzkranzgefäß binnen zwei Stunden wiedereröffnet wird, bestehen gute Aussichten auf Erholung. Je länger jedoch die Herzmuskelzellen nicht durchblutet werden, desto wahrscheinlicher sind bleibende Schäden.


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Vor Corona waren Ärzte zufrieden: Jahrzehntelange Aufklärungskampagnen und bessere Abstimmung hatten die Rettungskette erfolgreich beschleunigt. Die Sterblichkeit beim akuten Herzinfarkt in Deutschland hat sich in den vergangenen 25 Jahren mehr als halbiert, durch Prävention, Diagnostik und Therapie.

Blick in ein Herzkatheterlabor im Krankenhaus Martha-Maria Nürnberg. Unter Röntgenkontrolle werden dabei mit einem feinen Schlauch die Herzkranzgefäße untersucht und wieder durchlässig gemacht.

Blick in ein Herzkatheterlabor im Krankenhaus Martha-Maria Nürnberg. Unter Röntgenkontrolle werden dabei mit einem feinen Schlauch die Herzkranzgefäße untersucht und wieder durchlässig gemacht. © Roland Fengler

Die Kliniken hoffen daher, dass ihr Appell gehört wird: "Bei Herzbeschwerden unverzüglich die 112 wählen. Bei der Behandlung zählt jede Minute – auch in Zeiten von Corona!", forderten sie im Herzinfarktnetzwerk Mittelfranken im November in einer Pressemitteilung. Das typische Warnzeichen seien drückende, anhaltende Schmerzen hinter dem Brustbein, die in Hals und Kiefer, Rücken, den linken Arm oder den Oberbauch ausstrahlen können, dazu eventuell Luftnot.

Jährlich 17 Millionen Herz-Kreislauf-Tote

"Unsere Botschaft ist: Das Risiko für Betroffene, am Herzinfarkt zu versterben, ist viel höher, als Covid-19 zu bekommen, weil man zum Arzt geht", sagt Prof. Matthias Pauschinger, Chefarzt am Klinikum Nürnberg. Zwar habe die Corona-Pandemie schon eine Million Todesfälle verursacht, "aber jedes Jahr sterben weltweit 17 Millionen Menschen an Herz-Kreislauf-Erkrankungen", warnt sein Kollege Prof. Stephan Achenbach vom Universitätsklinikum Erlangen. Es gehe nicht nur um den Herztod, sondern um vermeidbare Langzeitfolgen bei Überlebenden. Herzschwäche-Patienten brauchen oft lebenslang Behandlung und führen einen Alltag mit Einschränkungen.

"Patienten werden sehr sicher versorgt"

Obwohl die hohe Anzahl kritischer Verläufe von Covid-19 die Krankenhäuser inzwischen an die Belastungsgrenze bringt: "Patienten mit akuten Problemen werden auch zu Corona-Zeiten zu jeder Zeit und sehr sicher versorgt", sagt Dr. Karsten Pohle, der die Herzmedizin am Nürnberger Krankenhaus Martha-Maria leitet. "Wir Krankenhäuser betreiben einen Riesenaufwand, um Mitarbeiter und Patienten zu testen."

Der Chefarzt betont das, weil auch er "diffuse Ängste" zu hören bekommt, genau wie während des ersten Corona-Lockdowns im Frühjahr. Kürzlich habe der Notarzt einen Patienten im Schockzustand nach Martha-Maria gebracht; sein Herzinfarkt war schon drei bis vier Tage alt. Ein anderer Betroffener habe zwei Tage aus Angst vor Ansteckung abgewartet. Sein Erlanger Kollege Achenbach erinnert sich an jemanden, der "erst mal drei Wochen auf dem Sofa blieb".

Aus solchen Einzelfällen lassen sich keine statistischen Schlüsse ziehen. Ob durch die Pandemie mehr Menschen an einem Herzinfarkt versterben, weil sie die Klinik meiden, oder ob es langfristig zu mehr schweren Verläufen durch Abwarten kommt – bisher sind das erst Hypothesen.

Eine Auswertung des wissenschaftlichen Instituts der AOK stützt die Annahmen. Gemäß der Versichertendaten gab es im Frühjahr 31 Prozent weniger Herzinfarkte in stationärer Behandlung als im Vorjahreszeitraum. Andere Länder berichteten von Einbrüchen um 40 Prozent. Die genauen Ursachen für den Rückgang – häusliche Todesfälle, aber theoretisch könnten, so die AOK-Autoren, durch andere Lebensumstände auch weniger Infarkte in der Bevölkerung aufgetreten sein – sind freilich schwer berechenbar. Eine Studie der Universitätsklinik Gießen kam zum Ergebnis, dass in Hessen während der vier Lockdown-Wochen im Frühjahr zwölf Prozent mehr Menschen an Herzversagen starben.

Das Klinikum Nürnberg dokumentiert für mehr Klarheit seine Zahlen aus der Kardiologie für eine wissenschaftliche Auswertung. Demnach ging die Zahl der im Klinikum behandelten schwereren Herzinfarkte (sogenannte STEMI-Infarkte) in den ersten drei Wochen des Corona-Lockdowns ab Mitte März um 27 Prozent zurück, verglichen mit demselben Zeitraum ein Jahr zuvor, berichtet Oberarzt Dr. Dennis Eckner. Die Wartezeit von Beschwerdebeginn bis zum ersten Arztkontakt verdoppelte sich von 57,5 Minuten auf 108 Minuten. Die Behandlungs-Zeitfenster in der Klinik blieben dagegen gleich.


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Und noch etwas anderes zeige ihnen, dass im Moment mit tragischen Folgen getrödelt wird, berichten Harald Rittger in Fürth und Karsten Pohle in Nürnberg. "Wir sehen plötzlich so viele Septum-Defekte wie noch nie." Das Septum, die Herzscheidewand, kann bei einem unbehandelten Herzinfarkt Schaden nehmen. "Das hatten wir sonst nur noch alle zwei, drei Jahre mal." Ein Riss der Scheidewand sei eine schwere Komplikation, die nicht ohne Folgeschäden für den Patienten bleibe.

Schlaganfall genauso zeitkritisch

Ein ähnliches Problem beobachteten Krankenhäuser weltweit im Frühjahr auch bei Schlaganfällen, einem genauso zeitkritischen Notfall. Hier scheint sich die Lage rund um Nürnberg entspannt zu haben. Zwei Haupt-Anlaufstellen, das Klinikum Nürnberg und die Uniklinik Erlangen, sehen derzeit, anders als im Frühjahr, keine Auffälligkeiten im Patientenaufkommen. Zur Sicherheit betonen sie: Bei halbseitigen Lähmungserscheinungen, Gefühlsstörungen in einer Körperhälfte, Sprach-, Seh- oder Gleichgewichtsstörungen sofort den Rettungsdienst rufen.

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