Unterricht wird gestrichen werden müssen

Bayerns Grund- und Mittelschulen im Ferien-Krisenmodus: Lehrermangel noch schlimmer als erwartet

1.8.2022, 10:40 Uhr
Bayerns Grund- und Mittelschulen im Ferien-Krisenmodus: Lehrermangel noch schlimmer als erwartet

© Sven Hoppe/dpa

Während für die bayerischen Schüler und die meisten Lehrkräfte vor wenigen Tagen die großen Ferien begonnen haben, müssen die Rektoren der Grund- und Mittelschulen im Freistaat nachsitzen. Sie sollen Pläne ausarbeiten, wie sie trotz eines sich dramatisch zuspitzenden Lehrermangels nach den Sommerferien noch ein halbwegs reguläres Unterrichtsangebot auf die Beine stellen. Erst wenige Tage vor dem Ferienbeginn sind die Schulen informiert worden, wie ernst die Lage ist.

Das Kultusministerium hatte vergangene Woche in einem Brief an die Bezirksregierungen die problematische Situation geschildert. Für Florian Kohl, stellvertretender Landesvorsitzender der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), ist das Schreiben "schlicht Beleg dafür, dass es dem Ministerium nicht mehr gelingt, das Bildungssystem angemessen auszustatten". Die Grund-, Mittel- und Förderschulen sollten nun nur noch das anbieten, "was scheinbar unbedingt notwendig ist", formuliert es die Präsidentin des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbandes (BLLV), Simone Fleischmann. "Alles ist viel schlimmer als gedacht."

"Belastbare Angaben sind noch nicht möglich"

Das Ministerium in München macht noch keine konkreten Angaben dazu, wie viele Stellen am Anfang des Schuljahres 2022/23 im September im Vergleich zum abgelaufenen Schuljahr fehlen werden. Personalplanung und Personalgewinnung liefen auf Hochtouren, betont Minister Michael Piazolo (Freie Wähler). "Belastbare Angaben, wie sich die Unterrichtsversorgung zu Beginn des Schuljahres darstellen wird, sind zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht möglich."

Piazolo verweist darauf, dass im Landeshaushalt grundsätzlich genug Geld für neue Stellen zur Verfügung stehe. "Angesichts eines deutschlandweit angespannten Bewerbermarktes (...) bedeutet es aber eine große Herausforderung, diese Stellen zu besetzen beziehungsweise entsprechende Arbeitsverträge zu schließen."

Letztlich gelingt es in Bayern seit Jahren nicht, ausreichend Personal für die Schulen zu finden. Daher hat die Staatsregierung schon mehrfach versucht, mit Notmaßnahmen die Lücken zu schließen. So muss beispielsweise ein erheblicher Teil der Grundschullehrer seit zwei Jahren pro Woche eine Stunde mehr unterrichten. Die unbezahlte Mehrarbeit soll dann in späteren Jahren ausgeglichen werden - viele Betroffene reagierten trotzdem verärgert.

Teilzeitregelungen werden eingeschränkt

Auch Teilzeitregelungen wurden für die Pädagogen eingeschränkt. In der Corona-Pandemie wurde die Lage noch dadurch verschärft, dass schwangere Frauen während der kompletten Schwangerschaft nicht mehr ins Klassenzimmer dürfen - aktuell sind dies laut Ministerium etwa 3000 Lehrerinnen.

Welche Unterrichtsangebote konkret ab September wegfallen, sollen jetzt die örtlichen Schulämter zusammen mit den Schulleiterinnen und Schulleitern klären. In dem internen Brief wird dies als "regionalspezifische Ausbalancierung von angespannten Personallagen" bezeichnet. Das Ministerium spricht offiziell lediglich von einer "strafferen Einsatzplanung" und möglichen "punktuellen Einschränkungen bei Wahl- und Neigungsangeboten".

Die GEW sieht hingegen aufgrund des Ministeriumsschreibens ein ganzes "Streichkonzert" auf die Schülerinnen und Schüler sowie deren Eltern zukommen. In dem Brief wird beispielsweise vorgeschlagen, die Zusammenarbeit zwischen Grundschulen und Kindergärten vorübergehend auszusetzen. Zudem könnten die Deutschkurse für Kinder von Migranten gekürzt werden.

Möglicherweise über 30.000 Schulkinder aus der Ukraine

Dabei verweist das Bildungsressort darauf, dass möglicherweise mehr als 30.000 aus der Ukraine geflüchtete Kinder zusätzlich in die Schulen kommen. Sie sollen zunächst in "Brückenklassen" unterrichtet werden. Die Staatsregierung hofft darauf, dass Bürger deswegen auch Verständnis für unpopuläre Maßnahmen aufbringen: "Angesichts der Gesamtsituation und der großen Solidarität, die unsere Gesellschaft mit den aus der Ukraine geflohenen Familien an den Tag legt, erscheint es auch vertretbar, übergangsweise geringfügig größere Klassen in Kauf zu nehmen", heißt es in dem Schreiben.

Die Regierung von Unterfranken reagierte auf den Brief aus München prompt und suchte sogleich per Twitter "Unterstützungslehrkräfte" für die Grund- und Mittelschulen. Die Bezirksregierung hofft auf Bewerbungen von Studierenden, die auf Lehramt studieren oder wenigstens ein "Fach mit pädagogischem Bezug" belegt haben, von Lehrkräften im Ruhestand und anderen, die schon einmal eine Lehramtsprüfung absolviert haben.

Allein im Landkreis Augsburg fehlten zum neuen Schuljahr noch etwa 50 Klassenleitungen, wie die "Augsburger Allgemeine" berichtete. "Es wird heuer nicht ohne schmerzhafte Einschnitte gehen", zitiert das Blatt den örtlichen Schulamtsdirektor Thomas Adleff. Es gehe nun darum, dass am ersten Schultag in sechs Wochen "auf jeden Fall vor jeder Klasse eine Klassenleitung steht".

Studierende sogar als Klassenleiter einsetzen

BLLV-Chefin Fleischmann rechnet nicht nur mit der Reaktivierung weiterer Pensionisten, um den Engpass abzufedern. Studentinnen und Studenten würden künftig nicht nur Hausaufgabenbetreuungen übernehmen, sondern sogar als Klassenleitungen an der Tafel stehen. Außerdem könne der Stundenplan zusammengestrichen werden, zumindest die Nebenfächer. "Man kann Musik, Kunst und Sport entweder durch Sportler, Künstler oder Opernsängerinnen halten lassen - oder aber absagen."

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