Coach im Interview: Wie Unternehmen die Krise meistern können

26.10.2020, 14:33 Uhr
Wo geht‘s jetzt lang? Wenn Führungskräfte den Weg auch nicht kennen, sind Mitarbeitende noch mehr verunsichert. Doch Unternehmen können sich für solche Situationen fit machen.

© iStock.com/bee32 Wo geht‘s jetzt lang? Wenn Führungskräfte den Weg auch nicht kennen, sind Mitarbeitende noch mehr verunsichert. Doch Unternehmen können sich für solche Situationen fit machen.

Frau Gstöttner, Sie kommen oft ins Spiel, wenn in einem Unternehmen Veränderung ansteht. Das ist im Moment fast überall der Fall. Ihr Schwerpunkt sind aber weniger die Abläufe als der Mensch. Warum?
Anja Gstöttner: Ich kann mich an einen Fachartikel von vor 15 Jahren erinnern, der hieß: „75 Prozent aller Veränderungsprozesse scheitern am Menschen“. Und das gilt immer noch. Da können die neuen Abläufe, ob ein neues IT-Projekt oder eine neue Produktionsstraße, komplett richtig aufgesetzt worden sein - wenn die eigene Mannschaft vergessen wird, hat man ein Problem.
Das fängt damit an, dass man zu wenig informiert, und den Mitarbeitenden damit das Gefühl gibt: He! Da läuft was ohne uns.

Reicht informieren denn aus, um die Belegschaft für eine Neuerung oder eine notwendige Änderung zu gewinnen?
Gstöttner: Nein, denn Information ist noch nicht Kommunikation. Man muss den Mitarbeitenden auch Raum geben, sich mit der Materie auseinanderzusetzen, Fragen zu stellen, mit den Führungskräften und untereinander ins Gespräch zu kommen. Auch Bauchschmerzen zu diskutieren. In so einem Prozess gibt es keine blöden Fragen.
Ein Experte für Change in einem großen Nürnberger Unternehmen hat mir einmal gesagt: „Mein Motto ist kontinuierliche Überkommunikation.“ Und sein Erfolg gibt ihm Recht.

Viele Unternehmen müssen sich aber gerade in einer akuten Krisensituation neu aufstellen, da bleibt für so etwas wenig Raum.
Gstöttner: Man muss sich die Frage stellen, was tatsächlich mehr Zeit kostet: Erst die Kommunikation oder später die wirklich herausfordernden Gespräche bei verhärteten Fronten? Information und Kommunikation haben auch etwas mit Respekt und Wertschätzung zu tun. Dafür sollte immer Zeit sein.

Anja Gstöttner (48) hat 23 Jahre im Personalbereich gearbeitet, zuletzt in der Deutschlandverantwortung eines großen Pharmakonzerns. Seit mehr als drei Jahren arbeitet sie selbstständig und berät Einzelpersonen und Unternehmen bei Veränderungsprozessen.  

Anja Gstöttner (48) hat 23 Jahre im Personalbereich gearbeitet, zuletzt in der Deutschlandverantwortung eines großen Pharmakonzerns. Seit mehr als drei Jahren arbeitet sie selbstständig und berät Einzelpersonen und Unternehmen bei Veränderungsprozessen.   © Michael Matejka, NN

Schon vor Corona war Veränderung ein Dauerthema, die Pandemie führt uns jetzt nochmal vor Augen, wie schnell und mit wie vielen offenen Fragen uns eine Entwicklung überraschen kann.
Gstöttner: Dieser Unsicherheitsfaktor ist gerade bei Corona ein ganz zentraler Punkt. Arbeitgeber und Führungskräfte haben tatsächlich auf viele Fragen aufgrund der Unabschätzbarkeit der Lage keine Antworten. Das darf man dann auch so aussprechen, aber sollte auch ankündigen, so zeitnah wie möglich zu informieren, wenn es etwas Neues gibt.
Auch für viele Führungskräfte ist das eine völlig neue Situation, denn für so ein Krisenmanagement hilft das Fachwissen wenig. Da sind andere Kompetenzen gefragt.



Welche denn?
Gstöttner: Wichtig ist, eine gewisse Lösungsorientiertheit aufzubauen. Im Sinne von: Ich weiß jetzt nicht, wo wir rauskommen in dem Prozess, aber ich weiß, dass wir loslaufen müssen. Das bedeutet Risikobereitschaft und den Mut, Schritte zu unternehmen. Auch wenn ich vielleicht nicht alles Wissen habe, das ich gerne hätte, um mich sicher für diese Entscheidung zu fühlen.

Also vielleicht auch in die falsche Richtung loszulaufen?
Gstöttner: Genau. Aber so sind wir in Deutschland nicht konditioniert. Wir legen viel Wert auf Korrektheit, Disziplin und darauf, keine Fehler zu machen. Alles muss 100-prozentig funktionieren. Wenn ich mich aber auf so unsicheres und komplexes Terrain begebe, dann muss klar sein: man kann nicht alles wissen, aber man kann auch nicht abwarten, bis wir alles wissen. Wir müssen das Beste - Stand heute - daraus machen.

Das braucht aber eine andere Fehlerkultur.
Gstöttner: Ich sage Unternehmen: Vergesst das Wort Fehler! Arbeitet an einer Experimentierkultur! Ich komme aus der Pharmaindustrie. Wenn Sie in der Grundlagenforschung arbeiten, dann kann es sein, dass sie über Jahre Wirkstoffe erproben und immer wieder verwerfen. Trotzdem würde da niemand sagen, oje, heute bin ich schon wieder gescheitert.

Dort gehört der Irrtum zum Prozess dazu.
Gstöttner: Exakt! Passiert das aber in anderen Bereichen, heißt es: um Gottes Willen! Wir müssen uns hier wirklich anders aufstellen. Wenn es unsicherer wird, und das erfahren wir gerade alle extrem, und ich trotzdem lösungsorientiert sein möchte, bedeutet das, Dinge fehlerhaft zu machen. Ich erlebe häufig, dass gewartet und gewartet wird, statt einfach mal anzufangen! Häufig zeigt sich dann erst ein Weg, der vorher gar nicht absehbar war.

Wie kann ich dieses mutige Denken als Arbeitgeber fördern?
Gstöttner: Dafür sind zwei Schritte notwendig. Mitarbeitende müssen darauf vertrauen können, dass Fehler nicht sanktioniert werden, sonst wird gar nichts passieren. Das kann dauern, vor allem, wenn es in der Vergangenheit anders gehandhabt wurde. Und ich muss Appetit darauf machen. Dafür gibt es verschiedene Formate, in denen Menschen angstfrei etwas ausprobieren können. Die Arbeitnehmer müssen aber auch wissen, warum sie jetzt experimentieren sollen. Man muss klar kommunizieren: wir müssen das lernen, wir brauchen diese Fähigkeiten in Zukunft.

Das klingt gut, aber der Alltag ist doch eher, dass die Zeit fehlt, an solchen Formaten teilzunehmen.
Gstöttner: Fehlende Freiräume sind ein Problem. Und auch in einem Veränderungsprozess hat der Tag nur 24 Stunden.
Aber das ist wichtig: wenn sich eine innovative Kultur und neue Kompetenzen in meinem Unternehmen durchsetzen sollen, dann braucht es Freiräume. Und Freiräume heißt nicht: Samstags, oder am Abend nochmal zwei Stunden dranzuhängen. Sondern man muss dann Dinge auch weglassen und woanders schneller werden.

Wie wird man denn schneller?
Gstöttner: Ich arbeite zum Beispiel mit Liberating Structures, da geht es darum, wie Meetings durch neue Formate und Regeln effizienter werden.
Für ein Brainstorming gibt es innovative Formate, mit denen ich innerhalb weniger Minuten eine Menge Ideen generieren und eine zähe Besprechung beschleunigen kann.


Die Unsicherheit, was kommt nächstes oder übernächstes Jahr auf mich zu, was bedeutet die Krise für mich, belastet viele. Wie können Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hier gelassener werden?
Gstöttner: Ausgangspunkt ist mein eigenes Vertrauen in meine Leistungsfähigkeit. So etwas wächst zum Beispiel durch die angesprochenen Experimentierräume.
Und ich rate dazu, sich mit den eigenen Ängsten zu beschäftigen. Was kann denn schlimmstenfalls passieren? Ist uns überhaupt bewusst, dass die meisten Ängste sich niemals materialisieren? Viele Menschen sind unheimliche Perfektionisten. Aber man muss manchmal akzeptieren, dass es vielleicht nicht perfekt wird. Es ist einfach menschlich, dass in Veränderungsprozessen Fehler passieren.

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