Virologe im Interview

Coronavirus: "Die vollen EM-Stadien sind nicht das Problem"

25.6.2021, 18:22 Uhr
Coronavirus:

© Dolgachov/imago images

Herr Professor Dölken, aufgrund der Delta-Variante ist die Inzidenz in Großbritannien innerhalb von vier Wochen von Werten unter 20 auf 70 angestiegen, in Portugal wurden in einigen Gebieten Lockerungen wieder zurückgenommen. Könnte es ein solches Szenario auch bald bei uns in Bayern geben?

Das ist nicht ausgeschlossen. Der Anteil der indischen Mutante steigt bei uns gerade rapide, und im Herbst wird sie die dominante Variante sein. Die gute Nachricht ist, dass wir derzeit ja Sommer haben und die Zahlen allgemein sehr niedrig sind. Wenn der Anteil der Infektionen mit der Delta-Variante aber 50 Prozent übersteigt, beginnt es auch von den allgemeinen Infektionszahlen her allmählich relevant zu werden. Für den Juli kann man nach dem derzeitigen Stand der Dinge wohl noch Entwarnung geben, aber es wird wohl früher als im vergangenen Herbst wieder losgehen.

Was macht die Delta-Variante so gefährlich?

Da muss ich ein bisschen was vorrechnen: Das Ausgangsvirus hat eine Replikationszahl von 3, die britische Mutante ist um 30 Prozent infektiöser, im Schnitt steckt eine infizierte Person da also vier weitere Personen an. Bei der indischen Variante wird ein Infizierter nach der derzeitigen Datenlage etwa sechs weitere Personen anstecken. Das heißt, wenn drei von diesen sechs geimpft sind, bin ich etwa auf dem gleichen Stand wie vor der zweiten Welle im vergangenen Herbst. Wir hoffen ja, dass bei uns in absehbarer Zeit mehr als 50 Prozent vollständig geimpft sind, dann hätten wir die höhere Infektiösität der Delta-Variante zumindest ausgeglichen. Damit dann aber nicht ein ähnlicher Winter wie letztes Jahr droht, brauchen wir erheblich höhere Impfraten in den nächsten Monaten.


RKI-Chef: Tests und Maskenpflicht an Schulen bis Frühjahr 2022


Wie gut ist man durch die Impfungen gegen die Delta-Variante gewappnet? Schützt schon die erste Impfung einigermaßen ausreichend?

Bei jüngeren Menschen wird auch die erste Impfung schon verhindern, dass die auf der Intensivstation landen, aber man wird doch häufiger tatsächlich krank. Und je älter man ist, desto problematischer wird eine Infektion, wenn man noch keinen vollständigen Impfschutz hat. Aber auch eine erste Impfung ist definitiv besser als gar keine Impfung.

Sind die verschiedenen Impfstoffe gleichermaßen gut gegen eine Infektion mit der Delta-Variante geeignet?

Ich kenne aktuelle Daten von Astrazeneca, Biontech und Moderna, und die scheinen mit zwei Impfungen auch bei dieser Mutante sehr gut zu funktionieren. Bei Johnson & Johnson weiß ich es noch nicht genau, aber grundsätzlich wirken sicherlich all diese Impfstoffe gut.

Diese neue Mutation zieht ja in vielen Fällen auch andere Covid-Symptome als die bisher bekannten nach sich. Was wissen Sie darüber?

Was da besonders interessant beziehungsweise verwunderlich ist, dass die indische Mutante offensichtlich erheblich weniger den Geruchssinn beeinträchtigt. Woher das kommt, ist aktuell noch unklar. Da muss sich irgendwas in den Rezeptor-Interaktionen verändert haben. Das ist erst mal eine gute Nachricht, aber die schweren Krankheitsverläufe sind mit der Delta-Variante leider etwas häufiger.

Eine Untersuchung aus Schottland zeigt, dass Kinder im Vergleich zu Erwachsenen überdurchschnittlich oft mit der Delta-Variante infiziert werden? Wie gefährlich ist dieser Umstand Ihrer Einschätzung nach?


Delta-Variante: Wie gut schützen die bisherigen Impfstoffe?


Wir haben in den Kitas und den Schulen noch keine Sommerferien, und da gibt es natürlich viele Kontakte, während bei den Erwachsenen jetzt ein Großteil der Kontakte nach draußen verlegt worden ist. Deshalb ist bei den Kindern derzeit das Übertragungsrisiko höher. Genauso war das ja auch im Frühjahr in England, als die Zahl der Infektionen mit der britischen Mutante bei den Kindern zuerst explodiert ist. Eben weil die Schulen und Kitas die letzten Einrichtungen waren, die noch geöffnet hatten.

Was halten Sie vor diesem Hintergrund von der Entscheidung, dass die Maskenpflicht an bayerischen Grundschulen aufgehoben wurde?

Die Zahlen sind jetzt ja sehr schön niedrig, in Bayern sind aktuell gerade mal acht von 100.000 Menschen pro Woche infiziert. Das heißt nicht, dass man die Abstandsregelungen völlig vernachlässigen sollte, aber die Sinnhaftigkeit der Maskenpflicht, wenn man sich im Freien aufhält, ist momentan nicht mehr unbedingt gegeben.

Und was denken Sie, wenn Sie aktuelle Bilder von vollen EM-Stadien sehen?

Wenn ich ein Stadion mit 50.000 Personen habe, können natürlich eine Handvoll Infizierte darunter sein, die möglicherweise in ihrem direkten Umfeld ein paar andere anstecken können. Aber das sind keine Superspreader-Events, wie wir sie etwa in Kirchen oder in fleischverarbeitenden Industriebetrieben hatten. Wenn ich Sachen in Innenräumen mache, ist dieser Raum innerhalb von ein zwei Stunden eine einzige Virussuppe, und das kann draußen nicht passieren.

Also auf in die Stadien und in die Public-Viewing-Areas?

Das Signal, das von solchen Bildern ausgeht, ist natürlich schlecht. Aber das viel größere Problem sind die Millionen Menschen, die gemeinsam zuhause Fußball schauen. Bisher hielten sich die Zahlen von infizierten Frauen und Männern in etwa die Waage, aber jetzt steigt der Anteil der Männer merklich - wahrscheinlich, weil diese nun zusammen im Wohnzimmer vor dem Fernseher sitzen.

Fachleute sagen nun, dass angesichts der Delta-Variante eine noch höhere Impfquote nötig ist, um die Herdenimmunität zu erreichen. Haben die Ihrer Ansicht nach recht?

Das echte Problem, das ich beim Begriff Herdenimmunität sehe, ist, dass viele Leute denken: Jetzt lassen sich so viele Menschen impfen, da muss ich mich nicht mehr impfen lassen. Und dieses Konzept ist für Corona einfach falsch. Jeder von uns wird in den nächsten fünf Jahren mit diesem Virus in Kontakt kommen, das lässt sich nicht vermeiden. Nehmen wir an, wir erreichen 80 Prozent Durchimpfung bis Oktober, November, dann müssen wir davon ausgehen, dass sich mindestens die Hälfte der Ungeimpften im kommenden Winter infiziert. Und das wird weh tun und zu erneuten Maßnahmen führen.

Und was ist das optimale Szenario?

Alle Erwachsenen oder mindestens 90 Prozent lassen sich impfen. Wir müssen dem Virus so viele Wirte wie möglich wegnehmen, damit der unweigerliche Anstieg im Winter möglichst langsam verläuft und wir irgendwann aufhören können, in Kitas, Kindergärten und Schulen zu testen - beziehungsweise, dass diese beim Auftreten von Infektionen nicht mehr geschlossen werden müssen.

Aber die besonders vulnerablen Gruppen, etwa die alten Menschen, sind dann doch schon durchgeimpft.

Die Szenarien, dass das Virus in einem Seniorenheim ausbricht und zwei Wochen später sind 20 Prozent der Bewohner tot, wird es so nicht mehr geben. Aber jetzt trifft es halt die jüngeren Leute, die zum Teil wochenlang auf der Intensivstation liegen könnten. Und die Todesraten werden zwar runtergehen, aber nicht auf Null sinken.

Was halten Sie von Impfungen für Kinder?

Von der Ständigen Impfkommission gibt es ja noch keine generelle Empfehlung, was meiner Ansicht aufgrund der aktuellen ungenügenden Datenlage auch richtig ist. Sobald es aber mehr Daten und auch genügend Impfstoff gibt, sollte aber zumindest ein Teil der Kinder geimpft werden. Es hilft schon enorm, wenn ein Drittel der Kinder in einer Schule geimpft sind. Dazu wieder ein Rechenbeispiel: Bei neun Kindern gibt es insgesamt 36 Kontaktmöglichkeiten dieser Kinder untereinander. Impfe ich drei von diesen Kindern, sind es nur noch 15 Kontaktmöglichkeiten von möglicherweise infizierten Kindern untereinander. Das macht also schon einen riesigen Unterschied.

Wie wahrscheinlich ist es, dass sich in irgendwo auf der Erde immer neue Mutationen des Virus bilden? Und sind dann diese Epsilon-, Zeta- oder Eta-Varianten dann immer noch ein wenig infektiöser und gefährlicher als die vorangegangenen Spielarten?Es werden definitiv weitere Mutanten entstehen, aber was als positive Nachricht mitgenommen werden kann: Sars-CoV-2 hat ein ziemlich großes Genom. Das Virus muss also auf sein eigenes Genom aufpassen. Die aktuellen Varianten entwickeln schon jetzt häufig die gleichen Veränderungen an den gleichen Stellen. Das heißt, der Raum für Mutationen, die für diesen Erreger von Vorteil sind, ist beschränkt. Ich bin daher zuversichtlich, dass die aktuellen Impfstoffe nach voraussichtlich einer weiteren Auffrischung nach zwölf Monaten langfristig und sehr gut wirken werden.

Verwandte Themen