Das Schneewittchenland erwacht

31.3.2021, 11:12 Uhr
Der Marktplatz in Königsberg - auf dem Brunnen das Denkmal für den großen Gelehrten. Die ganze Altstadt steht unter Denkmalschutz.

© e-arc-tmp-20210324_160037-4.jpg, NNZ Der Marktplatz in Königsberg - auf dem Brunnen das Denkmal für den großen Gelehrten. Die ganze Altstadt steht unter Denkmalschutz.

Wenn Gerold Snater durch das Städtchen läuft, begleitet von seiner französischen Bulldogge, hat er meistens die Kamera dabei. Heute hat er einen hübschen kleinen Vogel fotografiert, ein seltenes Exemplar. Ob man sich mit Vögeln auskenne? Oh, leider, nicht so gut – aber bestimmt, sagt Gerold Snater, wird er jemanden finden, der das Vögelchen identifiziert. Er kennt ja jeden hier.


Als der gebürtige Bamberger als junger Grundschullehrer nach Königsberg in Bayern kam, hatte er, erzählt er lächelnd, vor allem diesen Gedanken: "In diesem verschlafenen Nest bleibst du höchstens ein Jahr." Das ist jetzt mehr als ein halbes Jahrhundert her, er ist immer noch da, seit dem 5. September 1966, das Datum weiß er auswendig. Er heiratete die Tochter des Dorfwirts aus dem Goldenen Stern am Marktplatz, gehörte 36 Jahre lang dem Stadtrat an, wurde Rektor in Zeil am Main – und wollte nie wieder weg aus Königsberg. "Mein Herz schlägt für die Stadt", sagt er im Arbeitszimmer seines Hauses in der Pfaffengasse.

Eine eigene Zeitung


Dort entsteht seit 20 Jahren die "Königsberger Zeitung", gegründet von Gerold Snater und seinem Sohn Henning, zunächst aus Leidenschaft für den Sport, "alle Ballsportarten außer Fußball", erzählt Snater, hat er selbst betrieben. Die Idee kam gut an, es wurde eine kleine Lokalzeitung daraus, die man kostenlos im Netz lesen kann. Eine gedruckte Ausgabe wäre viel zu teuer.


Als es den Sohn nach dem Examen als Medientechniker hinauszog in die Welt, erst nach Berlin, dann nach Kopenhagen, machte der Vater, heute 77 Jahre alt, alleine weiter. "Aus Spaß an der Freud", wie er sagt, ist er Herausgeber, Chefredakteur, Reporter, Fotograf – und ein wenig auch das Gedächtnis einer Stadt mit einer ganz besonderen Geschichte.

Exklave in Bayern


Über sechs Jahrhunderte war Königsberg – zwischen den Bistümern von Bamberg und Würzburg – eine evangelische Exklave der sächsisch-thüringischen Herzogtümer, bis 1918 gehörte es, komplett umgeben vom Königreich Bayern, zum Herzogtum Sachsen-Coburg und Gotha. Am 1. Juli 1920 trat es mit Coburg dem Freistaat Bayern bei, den es seither im Namen trägt.


Mit über 2000 Einwohnern – das genügte damals – war das früh reformierte Königsberg zu Beginn des 17. Jahrhunderts eine der größeren Städte Süddeutschlands. Gewachsen ist es seither nicht mehr, heute zählt Königsberg gut 1600 Einwohner. "Ein wenig wie aus der Zeit gefallen", wird der evangelische Stadtpfarrer Peter Hohlweg später sagen, wirke es, "so traumhaft schön". Im Dreißigjährigen Krieg heimgesucht vom katholischen Söldnerführer Tilly und schwer verwüstet, hat sich Königsberg seit dem Neuaufbau vor 300 Jahren tatsächlich kaum mehr verändert. Die romantische Fachwerk-Altstadt, ein herrliches Ensemble, steht unter Denkmalschutz.

Ein berühmter Gelehrter


"Wenn ich über die Haßberge fahre und Königsberg sehe, geht mir das Herz auf", sagt Uta Adams, "eine schönere Kindheit hätte ich mir nirgendwo wünschen können." Uta Adams war ein halbes Jahr alt, als sie aus dem vom Krieg zerstörten Berlin nach Königsberg kam, die Familie war ausgebombt worden – und fand ein Quartier in einem Haus, dessen Geschichte sie bis heute fasziniert.


Es ist das Regiomontanushaus am Salzmarkt, über den es hinauf zur Ruine der von Kaiser Friedrich Barbarossa gegründeten Burg geht. Regiomontanus hieß eigentlich Johann Müller, kam 1436 in Königsberg zur Welt und war nicht weniger als ein Genie, einer der hellsten Köpfe seiner Zeit – als Astronom und Mathematiker gehörte er zu den Wegbereitern des Kopernikanischen Weltbildes (mit der Sonne als Zentrum des Universums).

In Nürnberg gründete er – in jenem Haus, das 1509 Albrecht Dürer kaufte und das heute ein Wahrzeichen der Stadt ist –, die erste Sternwarte Deutschlands. Regiomontanus – es ist der latinisierte Name seiner Heimatstadt – forschte und lehrte in Wien, Budapest, Venedig und Rom, sein Nachlass ist im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg zu sehen.

Der Dornröschenschlaf


In Königsberg sammelte Uta Adams’ Vater "alles, was er über Regiomontanus finden konnte", wie sie erzählt, die Begeisterung gab er weiter an die Tochter. Der Vater war Rechtsanwalt in "einem lebendigen Städtchen", wie sich Uta Adams erinnert, "als Kinder konnten wir hier alles kaufen, Kleidung, Spielzeug, es gab Handwerker, Läden, für alles kleine Geschäfte – und drumherum die herrliche Natur".


Als Gerold Snater den Dienst an der Regiomontanus-Grundschule antrat, hatte die idyllische Kulisse schon begonnen, zu einem Freilandmuseum zu werden. Bald standen Häuser leer, die Läden machten zu, die Zeit überholte Königsberg, das, versteckt in den Haßbergen, "in einen Dornröschenschlaf", wie Snater sagt, fiel. Ein "Schneewittchenland", das schöne Wort verwendet Uta Adams – verschont geblieben von den Abrissbirnen der Stadterneuerer, aber ein wenig weltvergessen, die Statue des Regiomontanus stand ziemlich einsam auf ihrem Sockel am Marktplatzbrunnen.

Neues Leben in der Braugasse


Die Braugasse an der Stadtmauer hatte zu verfallen begonnen, "nur noch von Ratten bewohnt", sagt Alexander Meyerweissflog, sei sie schließlich gewesen. Der gebürtige Salzburger ging in Königsberg in den Kindergarten und später in Haßfurt aufs Gymnasium, wie seine spätere Ehefrau, aber erst während ihrer Berufsjahre in München lernten sich der Bankkaufmann und Anne-Marie Reiser richtig kennen.


Heute ist Anne-Marie Reiser-Meyerweissflog eine renommierte Bildhauerin, auf der Suche nach Ausstellungsräumen kehrte das Ehepaar zurück nach Königsberg – und entdeckte die kleine Gasse, in der die Königsberger einst für den Hausgebrauch brauten. Daraus wurde, vor nun 24 Jahren, mit Unterstützung des Freistaats Bayern der Kunsthandwerkerhof, und weil mehr und mehr Besucher kamen, muss Anne-Marie Reiser-Meyerweissflog heute manchmal daran erinnern, dass die Künstlerin, nicht Bäckerin ist – so gut schmecken ihre selbstgemachten Torten. Aus dem Service für Gäste wurde ein schönes kleines Cafe.

Große Musik in der Kirche


"Ein sehr liebenswürdiges Quartier", findet Elias Wolff, sei es geworden, der akademische Maler gehört zu den Künstlern der ersten Stunde, er kam damals aus Trier nach Königsberg. Wolff, 77 Jahre alt und begleitet von Minchen, einem Mischlingshündchen, mit dem er in der Gasse gerne Fußball spielt, schließt das ehemalige Sudhaus auf. Dort finden regelmäßig Ausstellungen statt, über 150 sind es schon gewesen, mit Künstlern aus dem In- und Ausland. Wer herkomme, sagt Elias Wolff, lerne schnell, Königsberg zu lieben.


Das ging auch Peter Hohlweg so. Als er vor fünf Jahren als neuer Pfarrer in die Stadt kam, halfen die Meyerweissflogs mit, die Regensburger Domspatzen für einen Auftritt in der Marienkirche zu gewinnen – es war der Auftakt für die "Klang-Kontakte" mit hochkarätigen musikalischen Gastspielen aus dem ganzen Land. Die 1432 eingeweihte Kirche, sagt Peter Hohlweg, sei "eigentlich zu groß für diese Stadt", der vor 120 Jahren regotisierte Bau zeugt von Königsbergs ehemaliger Bedeutung.

Renovierte Häuser

Er liebe "große Räume, ihre Schönheit", sagt der junge Pfarrer, der selbst im Windsbacher Knabenchor sang: "Über Musik lassen sich die Herzen der Menschen aufschließen" – das versteht gut, wer das Glück hat, Ivo Schwinn auf der neuen Orgel beim Üben zuhören zu können, der 15 Jahre junge Mann hat schon einen ersten Preis beim Wettbewerb "Jugend musiziert" gewonnen. "Die Kirche", sagt Gerold Snater, "hat viel dazu beigetragen, neues Leben in die Stadt zu bringen."


Beim kleinen Rundgang sieht man es. Das Tilly-Haus am Salzmarkt, jahrelang eine Katzenpension gewesen, ist gerade saniert worden, der ehemalige Regiomonanuskeller auch. Das Regiomontanushaus kann man als Urlaubsquartier buchen, Uta Adams erzählt von vielen Gästen, die regelmäßig wiederkommen.

Zum Abschied ein Schnaps


"Eine ruhige kleine Stadt", sagt Gerold Snater, "sind wir geblieben", der Massentourismus findet nicht hierher, es ist eher ein Ort für Liebhaber – in den die globalisierte Welt Einzug findet, wenn sich Henning Snater bei technischen Problemen aus Dänemark in die Pfaffengasse zuschaltet, die "Königsberger Zeitung" wird dann in Kopenhagen mitproduziert. Aber der Ausflug soll im richtigen Leben enden, zum Abschied will Gerold Snater dem Besucher noch etwas offerieren. Im Wandschränkchen seines Arbeitszimmers findet sich ein vorzüglicher Birnenbrand. Ein gemeinsames Schnäpschen im Redaktionsbüro – leider auch eine etwas aus der Zeit gefallene Übung.

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