Demokratie

Erlanger Menschenrechtler kritisiert: Wohnungslose Menschen werden von Wahlen ausgeschlossen

21.9.2021, 09:01 Uhr
Obdachlose Menschen ohne festen Wohnsitz haben erschwerten Zugang zu Wahlen - zu diesem Fazit kommt der Erlanger Menschenrechtler und Professor an der FAU, Michael Krennerich. 

© Hauke-Christian Dittrich/dpa Obdachlose Menschen ohne festen Wohnsitz haben erschwerten Zugang zu Wahlen - zu diesem Fazit kommt der Erlanger Menschenrechtler und Professor an der FAU, Michael Krennerich. 

Das Wahlrecht ist ein Menschenrecht, heißt es im Artikel 21 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen. Jeder Mensch hat also das Recht, "an der Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten des eigenen Landes unmittelbar oder durch frei gewählte Vertreter mitzuwirken." So steht es zumindest auf dem Papier. Doch ist das in der Praxis wirklich so? Wie steht es beispielsweise um das Wahlrecht wohnungs- und obdachloser Menschen?

Michael Krennerich ist Professor am Lehrstuhl für Menschenrechte und Menschenrechtspolitik der FAU. Als Wahlrechtsexperte ist er seit über 30 Jahren international unterwegs - unter anderen in Lateinamerika, Afrika oder dem Kaukasus und berät u.a den Europarat.

Michael Krennerich ist Professor am Lehrstuhl für Menschenrechte und Menschenrechtspolitik der FAU. Als Wahlrechtsexperte ist er seit über 30 Jahren international unterwegs - unter anderen in Lateinamerika, Afrika oder dem Kaukasus und berät u.a den Europarat. © Sandra Wildemann

Michael Krennerich, Professor an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU) und Vorsitzende des Nürnberger Menschenrechtszentrums hat sich mit dieser Thematik auseinandergesetzt und in einer Studie drei Faktoren genauer untersucht: Das Wahlrecht, die Registrierung zur Wahl sowie die tatsächliche Wahlrechtsnutzung. Krennerichs Fazit: Nicht alle Wahlberechtigten in Deutschland können ihr Grund- und Menschenrecht auch immer problemlos ausüben, besonders wohnungs- und obdachlose Menschen laufen "völlig unter dem Radar", wie er sagt.


Erstwähler mit 73 Jahren: Vollbetreute Menschen dürfen erstmals ihre Stimme abgeben


Unterscheiden müsse man zuerst zwischen den Begriffsbezeichnungen "wohnungslos" und "obdachlos". Nicht alle wohnungslose Menschen ohne mietvertraglich abgesicherten Wohnraum leben auf der Straße. Viele sind ordnungs- oder sozialrechtlich untergebracht und haben als solche eine Meldeadresse. Obdachlose sind jedoch wohnungslose Menschen auf der Straße, ohne festen Wohnsitz und Meldeadresse, zu der die Wahlunterlagen geschickt werden können", erklärt Krennerich. Das führe zu einer niedrigen Wahlbeteiligung obdachloser Menschen an Kommunal-, Landtags-, oder Bundestagswahlen. Offizielle Zahlen gibt es nur in den Stadtstaaten Hamburg, Bremen und Berlin, "die anderen Bundesländer haben praktisch keine Ahnung, wie viele wohnungs- und obdachlose Menschen überhaupt wählen gehen", so Krennerich.

Mangelnder Zugang zu Informationen

Einer seiner Kritikpunkte ist der mangelnde Zugang zu Informationen. "Die Menschen sind oft schlecht informiert und wissen gar nicht, wie sie an den Wahlen teilnehmen können", sagt der Menschenrechtler. Wahlinformationen müssten stärker in Ämtern, Schlafstellen und Beratungsstellen ausgelegt werden. Auch seien die Vorgänge oftmals ein Hindernis. Da obdachlose Menschen keine Meldeadresse haben und somit nicht automatisch im Wählerverzeichnis aufgenommen werden, müssen sie sich aktiv registrieren, um ihr aktives und passives Wahlrecht ausüben zu können. Dies muss ein paar Wochen vor der Wahl passieren - viele verpassen die Frist, schlichtweg aus Unkenntnis.


Wahlzettel zur Bundestagswahl 2021: Wie wählt man eigentlich?


Krennerich plädiert hier für einen niedrigschwelligen Zugang: "Zuerst muss sichergestellt werden, dass wirklich alle Menschen gemeldet sind, die auch meldepflichtig sind. Sammelanträge, von beispielsweise der Wohnungslosenhilfe, können zudem helfen, die Wahlbeteiligung von Obdachlosen zu steigern, die sich aktiv zur Wahl registrieren müssen. Und wenn Dokumente fehlen, sollte damit pragmatisch umgegangen werden."

Er warnt davor, obdachlose Menschen "über einen Kamm zu scheren. Es gibt welche, die wählen möchten und das auch tun, einige, denen es zu umständlich ist aber auch die, die total politikverdrossen sind, zum Teil auch aus gutem Grund. Sie haben nicht das Gefühl, dass sie in ihrer Situation von der Politik gehört und ernst genommen werden." Für Krennerich müsse das Problem von Grund auf angegangen werden. "In Deutschland wird zwar viel über bezahlbaren Wohnraum diskutiert, eine richtige Lösung für die Wohnungslosenproblematik gibt es aber nicht. Die Politik muss hier verstärkt versuchen, einen offenen, bezahlbaren und diskriminierungsfreien Wohnraum für alle verfügbar zu machen und zu gewährleisten", so der Wahlexperte. Nur so könne man die Wahlrechtsnutzung obdachloser Menschen stärken.

Kommunale Wahlrecht an Wohnung gekoppelt

In seiner Analyse hat er zudem herausgefunden, dass Menschen ohne feste Meldeadresse in einigen Bundesländern sogar ganz von Wahlen ausgeschlossen werden. Baden-Württemberg, Hessen, Rheinland-Pfalz, Sachsen und das Saarland räumen wohnungs- und obdachlosen Menschen kein kommunales Wahlrecht ein, da dieses dort an eine Wohnung gekoppelt ist - für Krennerich eine Überraschung. "Mancherorts gibt es eine sehr antiquierte Vorstellung, was obdachlos bedeutet. Das sind keine Landstreicher. Das sind Menschen, die lokal verwurzelt sind, ihre Netzwerke an ihrem Standort haben. Es ist realitätsfremd, dass sie nicht an Wahlen teilnehmen dürfen, zumal sie von den Entscheidungen auf kommunaler Ebene direkt betroffen sind, mehr noch als auf Landes- oder Bundesebene", kritisiert Krennerich.


Bundestagswahl 2021: Wie viele junge Menschen gibt es in den Wahlkreisen?


Krennerich, der bereits das Wahlrecht behinderter Menschen unter Vollversorgung und das von Häftlingen untersucht hat, möchte für das Thema sensibilisieren und weitere Studien anstoßen. "Es ist viel mehr wissenschaftliche Forschung nötig. Obdachlose Menschen müssen stärker miteinbezogen werden, was sie erwarten und was getan werden muss, damit sie Vertrauen in die Politik finden", sagt Krennerich. Der wichtigste Punkt, so der Forscher, sei aber, die Wohnungslosigkeit von Grund auf zu bekämpfen.

Verwandte Themen


Keine Kommentare