Frühlingsbeginn im Hausarrest: Coronavirus in Bozen

21.3.2020, 18:00 Uhr
Frühlingsbeginn im Hausarrest: Coronavirus in Bozen

Es war vor wenigen Tagen: Mein Sohn Leonhard, er ist 6, hat sich, wie fast jeden Tag, die Logo-Nachrichten bei KiKA angesehen.

Es ging um Corona.

"Papa", so fragte er, "immer nur Corona, Corona, Corona, wann wird das mit dem blöden Corona endlich wieder aufhören?"

Ich nahm meinen Jungen auf den Schoß und versuchte, meine Sprachlosigkeit zu überspielen. Doch plötzlich schoss mir ein Satz in den Kopf, dessen emotionale Wucht mir erst später bewusst wurde.



Ich sagte zu meinem Sohn: "Junge, das, was du jetzt erlebst, das, was jetzt passiert, das wirst du einmal deinen Enkelkindern erzählen . . ."

Leonhard sah mich mit großen Augen an. "Ehrlich, Papa!?"

"Ja", antwortete ich, "es passiert derzeit etwas ganz, ganz Großes – und du, kleiner Mann, bist mittendrin in dieser großen Geschichte."

Ich glaube, dass ich meinem Sohn (und mir selbst?) mit diesem Sprachbild zumindest einen Teil seiner diffusen und subkutanen Ängste nehmen konnte, indem ich das Ganze unbewusst auf eine Abenteuer-Ebene gehievt habe.

Dabei bin ich selbst mit der Situation heillos überfordert. Wir alle wurden über Nacht in einen Alptraum hineinkatapultiert.

Wie wir da rauskommen? Wissen wir nicht! Es gibt leider keine Blaupause.

Innerhalb von nur zwei Wochen ist nichts mehr wie es war. Südtirol steht, wie Restitalien, nun schon seit Tagen still. Das Corona-Virus hat das Welttempo urplötzlich und ohne Vorbremsung von 200 auf 0 gedrosselt.

Wir erleben den Frühlingsbeginn im Hausarrest.

Frühlingsbeginn im Hausarrest: Coronavirus in Bozen

Der Waltherplatz, auf dem bis vor kurzem das Leben pulsierte, ist menschenleer, so wie die Straßen, die Gassen, die Promenaden sind gesperrt. Die Geschäfte und Bars unter den Lauben sind geschlossen. Die Restaurants ebenso. Kindergärten und Schulen – alles zu! Die Kirchen ebenso. Alle Hochzeiten abgeblasen. Alle Messen, Kongresse. Der Kulturbetrieb wurde vom Virus mit gnadenloser Härte gestoppt.

Die Fallzahlen schießen täglich in die Höhe. Die Zahl der Corona-Toten steigt mit unbarmherziger Geschwindigkeit. Wer jetzt beerdigt wird, der fährt ohne irdische Feier zum lieben Gott.

Wir leben hier in Bozen in einer Geisterstadt, in der die Motoren ruhen und die Vögel singen, in der die Menschen, die sich vor drei Wochen noch die Hände geschüttelt, geküsst und umarmt haben, sich meiden und misstrauisch beäugen wie Fremde. In den Supermärkten und in den Apotheken tragen die Menschen Gesichtsmasken, an den weit aufgerissenen Augen und den Katzenbuckeln erkennt man, dass viele Menschen verunsichert sind, panische Angst haben. Angst vor einem unsichtbaren Feind. Angst vor dem Ungewissen. Angst vor dieser neuen Situation, auf die niemand vorbereitet war.

Es gilt die Devise: Stehen wir zusammen, indem wir Abstand halten! Indem wir die sozialen Kontakte meiden.

Niemand hätte sich vor wenigen Wochen so ein Stadtbild vorstellen können.

Die Kinderspielplätze sind leer. Die Hunde ziehen ihre verängstigten Herrchen und Frauchen hinter sich her. Einzelne Jogger drehen ihre Runden und laufen, schlechten Gewissens, einen großen Bogen um die wenigen Menschen, die ihnen entgegenkommen.

Vor dem Ötzi-Museum gibt es keine Warteschlangen. Die Gletschermumie Ötzi darf eine Zeitlang wieder ihre ewige Ruhe genießen – ohne ständig begafft zu werden.

Am Obstmarkt hört man nur das Gurren der Tauben.

Die Öffi-Fahrer fahren ihre leeren Busse spazieren. Man sieht kein einziges Auto mit deutschem Kennzeichen.

In Zeiten von Corona floppt auch das Geschäft mit der Liebe, die Annoncen der Escort- und Liebesdamen sind aus den Zeitungen verschwunden.

Und der Sport?

Ich weiß ehrlich nicht, was für viele fußballverrückte Italiener schlimmer ist: Die Angst vor dem Virus – oder die abgesagten Serie-A-Spiele? Gerade eben ist über die Agenturen die Meldung hereingekommen, dass ein Sizilianer aus der Quarantäne vor seiner Ehefrau geflüchtet ist. Er wurde geschnappt und zur Höchststrafe verdonnert: Er musste zurück zu seiner Gattin.

Gut, dass man in Zeiten von Corona noch Schmunzeln kann.

Aus Venedig hören wir, dass das Wasser in der Lagune so klar ist wie noch nie. Sogar Delphine sollen vor Triest gesichtet worden sein. Hier in Bozen, habe ich den Eindruck, ist die Luft reiner. Bozen riecht besser.

Die Dunst- und Smogglocke, die gewöhnlich wie ein grauer Deckel über der Stadt hängt, ist verzogen.

Man sieht keine Kondensstreifen am Himmel. So blau war der Himmel vor 50 Jahren, sagen ältere Herrschaften.

Die Welt ist am Zurückfahren.

OB Janik appelliert an die Vernunft der Erlanger

Das verdammte Coronavirus dockt in allen Lebensbereichen an. Sogar das problembereitende Gewerbe ist zum Erliegen gekommen. Die Einbrecher sind in Zeiten der kollektiven Quarantäne arbeitslos.

Die Land- und Obstwirtschaft in Südtirol befindet sich in Schockstarre. Die Bergbauern verfüttern ihre Milch an die Kälber, weil den Milchhöfen das Verpackungsmaterial für Joghurts ausgeht. Die Kellereien im Weinland Südtirol bleiben auf ihrem Wein sitzen, weil die Restaurants und Bars geschlossen sind.

Auch in unserem kleinen Redaktionskosmos ist nichts mehr, wie es noch vor wenigen Tagen war. Ein Gutteil der Mannschaft arbeitet von zuhause. In einer Videokonferenz am späten Vormittag wird das Blatt geplant.

Corona. Corona. Und nochmals Corona.

Wir haben zu Beginn der Coronakrise zaghaft versucht, den LeserInnen und UserInnen auch alternative Themen zu bieten.

Kratzt niemanden! Die Menschen wollen nur wissen: Wann schaffen wir endlich die Corona-Kurve? Wann flachen die Fallzahlen endlich ab? Und: Was tun, damit ich mich und meine Lieben nicht anstecke?

Alles andere ist zweitrangig.

Wie haben immer wieder versucht, die gute Nachricht voranzustellen.

Aber man kommt um die täglichen Kriegs-Bulletins und um die erschütternden Fallzahlen und Todesfälle nicht herum.

Es ist grausam zu wissen, dass alte Menschen in Pre-Triage-Zelten verschwinden und dann sterben, ohne sich von ihren Lieben verabschieden zu können. Es ist ärgerlich zu wissen, dass junge Leute Corona-Partys feiern und dann ihre Omas und Opas anstecken und in den Tod schicken.

Die Bilder, die uns aus der Lombardei erreichen, sind schockierend.

Da geht die reichste Region Italien wegen eines Virus in die Knie? Unvorstellbar! Aber wahr.

China war weit weg. Mailand ist so verdammt nah!

Auch mich beschäftigt die bange Frage: Wird es auch uns in Südtirol so hart treffen?

Die Intensivstationen unserer sieben Spitäler werden Anfang der nächsten Woche an ihre Grenzen stoßen, wenn die Fallzahlen der schweren Verläufe so ansteigen wie dieser Tage, hat es heute geheißen.

Ich wehre mich aber trotz allem dagegen, von einem Krieg zu sprechen. Wir stehen wohl einem Feind gegenüber, einem unsichtbaren zumal, aber von uns werden – im Unterschied zu unseren Eltern und Großeltern, die den echten, grausamen Krieg erlebt haben – nur ganz kleine Opfer verlangt. Nämlich: Daheim auf der Couch zu bleiben. Das, denke ich, ist schaffbar.

Und ganz nebenbei hat jede Krise auch ihre hellen Seiten. Ich mache mir zwar keine Illusion, dass diese kollektive Gruppentherapie, in die uns das Coronavirus getrieben hat, die Saulusse dieser Welt in Paulusse verwandeln und die Welt viel besser machen wird.


Podcast: Corona-Krise trifft Erlanger Nachtleben und Bergkirchweih


Aber: Diese oktroyierte Entschleunigung tut auch gut! Die Langsamkeit. Die Stille. Das Reinigende.

Die Frage ist, ob wir aus dieser Situation etwas lernen. Ob dieser Altruismus, den wir jetzt erleben, Bestand hat.

Ob die Solidarität, die sich wie ein großer, warmer Teppich über Europa legt, auch dann noch anhält, wenn wir das kleine Monster besiegt haben. Wir sollten nämlich wissen, dass der Raubbau an der Natur, die Turbo-Philosophie in allen Lebens- und Wirtschaftsbereichen und vor allen Dingen die Geldgier – Stichwort: Skigebiete – die idealen Wirte für das Virus waren.

Wir haben dem Virus mit unserem Verhalten Tür und Tor geöffnet.

Im Idealfall lernen wir also aus dieser Geschichte, die so groß ist, dass unsere Kinder sie einmal ihren Enkelkindern erzählen werden.

In dem Fall wären die Opfer, die insbesondere unsere älteren Mitbürger bringen, nicht umsonst gewesen.

In diesem Sinne: Liebe Grüße in die Partnerstadt Erlangen.

Wir schaffen das schon irgendwie! Bleiben Sie gesund!

Über Nacht wurden

wir in einen

Alptraum

hineinkatapultiert

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