"Man lernt, sich über kleinere Dinge zu freuen"

24.12.2019, 14:00 Uhr

© Jakob-Herz-Schule

Das Jahr neigt sich dem Ende zu. Bis Silvester häufen sich die Rückblicke – doch was für ein Jahr es war! Für diesen Artikel haben wir mit vier Jugendlichen – oder auch jungen Erwachsenen – über ihre Erfahrungen der letzten Monate gesprochen. Sie haben viel Zeit in der Klinik verbracht, Max und Paul in der Onkologie, Emma und Lisa (Namen geändert) in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Ihre Altersspanne: 14 bis 18 Jahre.

Unterschiedliche Krankheiten, unterschiedliche Örtlichkeiten, die Kliniken sind zwar in Gehweite, aber doch in verschiedenen Häusern untergebracht. Nur Emma und Lisa kennen sich. Gemeinsam ist den Vieren, dass sie während ihrer Zeit in der Klinik die Dienste der "Schule für Kranke" – der Jakob-Herz-Schule – in Anspruch genommen haben.

Nun sitzen sie bei Schulleiter Markus Elser im Büro und reden über das Jahr 2019. Eine Weihnachtsgeschichte soll es werden, ein Artikel, der die Leser  vielleicht ein bisschen nachdenklich stimmt, schließlich ist Weihnachten wie eine Art Destillierglas, es wird Wichtiges von Unwichtigem getrennt, und viele stellen fest, dass das Wichtigste die Menschen sind, die ihnen nahe stehen – doch das nur schon mal vorneweg.

Auch wenn die Erkrankungen der Jugendlichen unterschiedlich sind, so haben sie doch gemeinsam, dass sie deren Leben grundsätzlich umgestülpt haben. Es sind Krankheiten, die auf jeden Fall lebensverändernd sind, auch lebensbedrohlich. Und das Gespräch der vier jungen Menschen handelt, auch wenn das nicht explizit ausgesprochen wird, von Tapferkeit und Ängsten, von Mut und vom Willen zu leben – und davon, wie einem das unvermittelt aufgezwungen werden kann, mitten im Leben und während man gerade eigentlich mit ganz anderen Dingen beschäftigt ist.

Paul hat darüber in der Weihnachtsausgabe der Schülerzeitung "Guckloch" der Jakob-Herz-Schule geschrieben. Der 18-Jährige schildert, wie sich für ihn am 10. Mai die Welt änderte.

"Diagnose traf mich völlig unvorbereitet"

"Zu diesem Zeitpunkt war ich 17 Jahre alt und hatte meine schriftlichen Abiturprüfungen gerade eben abgeschlossen. Am Tag darauf hatte ich die Gewissheit, dass die Zeit nach dem Abi für mich definitiv nicht so aussehen wird wie geplant: Die Diagnose Leukämie traf mich völlig unvorbereitet und in einem körperlich fitten Zustand. ,Traumstart‘ nannten die Ärzte das, als bereits am nächsten Tag, einem Sonntag, die Chemotherapie begann. Typisch Ärzte halt."

Das halbfertige Abi lässt ihm keine Ruhe, und "als mir meine Schule in Bamberg angeboten hat, die beiden mündlichen Prüfungen in der Klinik abzunehmen, war für mich klar, dass ich das jetzt irgendwie durchziehen muss".

Er zieht es durch, und das, obwohl es ihm mitten in der Chemo richtig schlecht geht. Die Lehrer der Jakob-Herz-Schule helfen ihm mit der Vorbereitung, die Lehrer seiner Schule in Bamberg kommen fürs Kolloquium zu ihm nach Erlangen in die Uni-Klinik – alle mit Mundschutz und Kittel, denn damals musste er vor jeglichen Keimen geschützt werden.

Auch Max erhält seine Diagnose im Mai. Schwere plastische Anämie – was das ist, hat der 16-Jährige, der zu diesem Zeitpunkt die zehnte Klasse eines Erlanger Gymnasiums besucht, bis dahin, so wie wohl fast jeder, nicht einmal gewusst. Eine Autoimmunerkrankung, über die er mittlerweile viel sagen kann, und das hört sich dann so kompetent an, als ob er selbst Mediziner wäre. Die Blutbestandteile sind, kurz zusammengefasst, sehr gering, das Knochenmark produziert keine neuen Blutbestandteile mehr.

Eine Knochenmarktransplantation wird bei ihm nicht gemacht, sondern die andere Variante, wie er sagt: Alle Zellen werden aus dem Knochenmark rausgeschmissen mit dem Ziel, dass das Knochenmark selbst wieder anfängt, neue Zellen zu bilden. Er muss Medikamente nehmen, die das Immunsystem unterdrücken, Medikamente, um das Knochenmark zu stimulieren, Schmerzmittel, Antibiotika, um Infekte zu verhindern. Stationäre und ambulante Zeiten wechseln sich ab, zwischen den Krankenhausterminen geht er, so weit es ihm möglich ist, zur Schule oder bekommt Hausunterricht, um die zehnte Klasse abzuschließen. Während der Klinikaufenthalte wird Max von Lehrern der Jakob-Herz-Schule unterrichtet.

"Die kleinste Anstrengung ist schwierig"

"Die Leistungsfähigkeit ist gering", sagt er. "Man ist ständig müde, die kleinste Anstrengung ist schwierig, und schwierig ist es auch, sich über längere Zeit zu konzentrieren. Man sollte sich nicht körperlich anstrengen."

Aber, fügt er dann hinzu: "Man nimmt keinen körperlichen Schaden davon, wenn man Matheaufgaben löst." Bloß, dass er eben Sport interessanter findet als Mathe. Fußball, Laufen, Schwimmen – "die Diagnose hat mich aus allem rausgeschmissen".

Ende Juli hat er eine üble Infektion, "da ging es um die Lebenserhaltung", sagt er, "ich hatte Schmerzen, an die ich vorher nicht mal gedacht habe". Er liegt in der Intensivabteilung, um die Paul knapp herumgekommen ist. Das, was Max am eigenen Leib erfährt, seine Krankheit und ihre Besonderheit "haben wir alles gemacht im Biologieunterricht in der zehnte Klasse ". Und nun: "Man lernt viel über die Blutbestandteile. Man beschäftigt sich damit – das ist das neue Leben."

Zur Expertin in eigener Sache ist auch Lisa geworden. 2015 war die heute 17-Jährige zum ersten Mal in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Depression, Suizidalität, Angststörung, Essstörung, sie zählt auf, womit sie zu tun hatte.

Nun ist sie mit einer Anorexie, also Essstörung, in der Klinik, kann das Gymnasium nicht besuchen. Sie spricht über die Kontrollen, die zeigen sollen, inwieweit die Blutwerte von Essstörungen beeinflusst werden. "Es dreht sich eigentlich alles darum zuzunehmen", sagt sie. 500 bis 1000 Gramm pro Woche soll man zunehmen. Sie erzählt von dem hochkalorischen Essen, das sie bekommt, und dass es das Schlimmste ist, wenn es "mit Sahne angereichert ist, ich wollte eigentlich Pulver haben".

Sie spricht von den Regeln in der Klinik. Nach jeder Hauptmahlzeit eine Stunde Sitzzeit, "da kann man sich Gedanken machen, warum man nicht gegessen hat". Zwei Mal am Tag zehn Minuten lang im Kreis laufen, "wir dürfen nicht rennen, aber wir laufen, so schnell wir können".

Geregelt ist auch der Ausgang, in sechs Stufen von 1 (hinausgehen mit einem Betreuer) bis 6 (allein 2 Stunden hinausgehen), Stufe 0 ist Kontaktsperre, "wenn wir in einer Woche abnehmen, kriegen wir zwei Stufen abgezogen". Anders als die 14-jährige Emma, die zum ersten Mal wegen Anorexie in der Kinder- und Jugendpsychiatrie ist und die Ausgangsstufe 5 hat, darf Lisa mit Stufe 2 die Klinik derzeit nur in Begleitung verlassen.

Und jetzt ist also Weihnachten. Ein anderes Weihnachten, mit der Erfahrung der Krankheit im Hintergrund. Gereift daran sind sie alle. "Man lernt, sich über kleinere Dinge zu freuen", sagt Max. "Diese zu schätzen, ja überhaupt erst wahrzunehmen".

Er ist noch in der Behandlung, macht sie von zuhause aus und besucht nun die elfte Klasse in seiner Schule. Pauls Behandlung ist abgeschlossen, er kommt wie Max noch zu Kontrollen in die Klinik. Die beiden Mädchen dürfen an Weihnachten einen Tag nach Hause. Dann wieder an Silvester.

Wichtig sind die Familie und die Freunde

Die Familie, die Freunde: Wie wichtig diese sind, wissen alle vier, heute mehr denn je. In der Klinik von der Außenwelt abgeschnitten ist nicht nur Lisa ("wir haben immer nur mittwochs Telefonzeit und dürfen drei Leute anrufen, aber jedes Gespräch darf nur fünf Minuten dauern"), auch Paul und Max haben erfahren, wie es ist, isoliert zu sein, in ihrem Fall zum Schutz vor Keimen ("und wir hatten kein Internet auf der Station").

Alle vier haben auch erfahren, wie schwer es für andere sein kann, mit ihrer Krankheit umzugehen, und es wird deutlich, dass dies bei psychischen Erkrankungen sogar noch schwerer ist als bei körperlichen Erkrankungen wie beispielsweise Krebs. "Es gab auch Freunde, die gesagt haben, dass sie nicht wissen, wie sie sich verhalten sollen", sagt Paul.

"Ich hasse Mitleid", sagt Lisa. Sie schildert auch, dass Freunde sich abgewendet haben "dadurch, dass ich nicht funktioniere". "Man wünscht sich Verständnis, aber man kann es nicht voraussetzen", erklärt Max. Und fügt an: "Man lernt durch diese Zeit die Menschen besser kennen." Paul stimmt zu: "Man erfährt, wer die echten Freunde sind." Die Hoffnung, die Krankheit als Zwischenphase in ihrem Leben zu überwinden, haben alle gemeinsam.

"Die Momente, in denen ich mich normal fühle, sind die besten", sagt Lisa. In kleinen Schritten zu gehen, sei ein guter Ansatz, meint Max. Die Richtung ist klar. Sie heißt Gesundheit. "Und bitte schreiben Sie in Ihrem Artikel auch einen Dank an unsere Familien, dass sie auch in schwierigen Zeiten immer zu uns halten", sagt Lisa.

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