Meinung: Deshalb sind Zwischenzeugnisse Quatsch

7.3.2021, 16:18 Uhr
Meinung: Deshalb sind Zwischenzeugnisse Quatsch

© Foto: Karl-Josef Hildenbrand/dpa

Für jede Eins im Zeugnis, das weiß ich noch, bekam ich von unserem Nachbarn fünf Mark geschenkt. Es war offen gesagt einer der Gründe, weshalb ich als Grundschüler nie besonders viel Geld besaß. Doch es gab diese fünf Mark ausschließlich für Noten im Endjahreszeugnis. Für Einser im Zwischenzeugnis gab es nur eine Mark. Das Zwischenzeugnis, so die Aussage des Nachbarn, zähle ja nicht wirklich, es sei nicht maßgeblich, ob ich das Schuljahr am Ende schaffe oder nicht.

Nun war Ende der 80er Jahre die Pandemie noch weit entfernt, es gab keine digitalen Klassenzimmer und keinen Distanzunterricht. Und dennoch war in den Augen des Nachbarn das Zwischenzeugnis gerade einmal ein Fünftel soviel wert wie das Endjahreszeugnis.

Nicht einmal ein Fünftel

Als Vater von zwei Grundschulkindern, die in diesen Tagen ihre Leistungsbewertungen für das vergangene halbe Schuljahr erhalten, besitzt das Zwischenzeugnis im Jahr 2021 nicht einmal dieses Fünftel an Aussagekraft. Und hört man sich bei Lehrerinnen, Lehrern, Schülerinnen und Schülern um, erfährt man schnell, dass man mit dieser Einschätzung nicht allein steht.

Aus Elternsicht frage ich mich zum einen, weshalb nicht meine Frau die Noten geben durfte – sie hat seit Dezember schließlich das schriftliche Multiplizieren, das Dehnungs-H, äu und eu, sowie das Lesen der ersten Buchstaben beigebracht, geübt und kontrolliert. Niemand kennt den schulischen Leistungsstand unserer Kinder besser als sie. Und auch aus Lehrersicht habe ich erfahren, dass es noch nie so schwierig war, Noten oder Beurteilungen auszusprechen über ein Halbjahr, in dem von dem einen Schüler fünf schriftliche und zwei mündliche Noten im Büchlein stehen, vom Sitznachbarn aber vielleicht insgesamt nur zwei. Beide haben dennoch jetzt eine Zeugnisnote erhalten – "ungerecht", sagen sogar die Lehrer.

Erstaunlich gute Noten

Die Schülerinnen und Schüler sagen – spricht man mit Haram Dar, der als Stadtschülersprecher der Mittelschulen die Abschlussklasse der Eichendorff-Schule besucht –, sie haben sich über die Zeugnisse gefreut. Weil sie sie zum einen für ihre Bewerbungen benötigen, zum anderen, weil auch bislang schlechtere Schüler plötzlich erstaunlich gute Noten bekamen. "Man muss ehrlich sagen: So richtig ernst kann das Zwischenzeugnis heuer von uns niemand nehmen", sagt Haram Dar, der sich kürzlich schon ein hitziges Wortgefecht mit dem Kultusminister lieferte.

Es führt zur Sinnfrage

Was alle drei Teile der Schulfamilie – Schülerinnen und Schüler, Lehrerinnen und Lehrer sowie die Eltern – zwangsläufig zur Sinnfrage führt: Warum war es dann unbedingt notwendig, Leistungsnachweise über einen Zeitraum zu erstellen, den die Schule objektiv und fair gar nicht bewerten kann. Mehr noch: Ein Zeitraum in einer weltweit nie zuvor dagewesenen Notlage, die in der Schule dazu führt, dass die Kinder profitieren, deren Eltern sich zu Hause kümmern können und wollen, und diejenigen im Nachteil sind, deren Eltern das nicht können.

Die Tatsache, dass es trotz dieser Widrigkeiten dennoch ein Zwischenzeugnis gab, hält uns so deutlich wie nie zuvor vor Augen, was grundlegend schief läuft in unserem Schulsystem: Selbst unter widrigsten Umständen, in Zeiten voller Angst und Ungewissheit darf eines offenbar auf keinen Fall fehlen: Leistungsbewertungen.

Motivation und Freude

Daher haben in meinen Augen all die Schulen der Schülerinnen und Schüler, die sich nun über rundum tolle Bewertungen freuen dürfen, etwas ganz Wichtiges verstanden: Uns gegenseitig Motivation und Zuspruch zu spenden, Mut und Freude zu machen sind die wirklich wichtigen Dinge in dieser schweren Zeit, die vor allem den Kindern und Jugendlichen in ihrer Entwicklung für immer gestohlen werden. Und es ist auch der einzig richtige Weg mit dem Irrsinn, ein Zwischenzeugnis geben zu müssen in Zeiten, in denen man keine Zwischenzeugnisse geben kann, umzugehen.

So ähnlich hat das übrigens damals auch mein Nachbar verstanden, als er merkte, dass mich seine Motivation als nicht so guter Schüler eher frustriert. Eines Tages sagte er mir, wir lassen das jetzt mit den Einsern im Zeugnis. Er zahle fortan stattdessen für jedes Tor, das ich im Fußball schieße.

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